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Mythos Disruption

Lutz Siebentag -

Auszug aus dem ersten handschriftlichen Entwurf des bekanntesten disruptiven Manifests auf Erden. Nach Ansicht der beiden Cheftheoretiker der kommunistischen Bewegung sollte die technologische Aufrüstung der Produktivkräfte die bestehenden Produktionsverhältnisse sprengen. So etwas Ähnliches scheint sich derzeit im Wealth Management abzuspielen. Der entscheidende Unterschied sollte allerdings auch nicht übersehen werden: Der Fortschritt erfolgreicher Technologie macht dem privatwirtschaftlichen Profitprinzip nicht den Garaus, wie Marx & Engels glaubten, sondern bringt dieses, wie die Geschichte seit der industriellen Revolution lehrt, erst richtig in Schwung. Um es eingeschränkt auf unser Thema zu sagen: Wer im Wealth Management weiterhin Gewinne machen möchte, muss seine IT und mit ihr die Unternehmensorganisation den neuen technologischen Möglichkeiten und  Erfordernissen anpassen. (Quelle: WB 2018)

 

 

Mathias Horx schrieb vor einiger Zeit in Anspielung an den ersten Satz des wirkmächtigsten Manifests der Weltgeschichte: „Ein Gespenst geht um in Europa – in der Ökonomie, der Politik, in der ganzen Welt, ganz besonders aber auf Wirtschaftskongressen. Sein Name: DISRUPTION“ („Mythos Disruption“, zukunftsInstitut.de). Das Gespenst geht auch um in Publikationen von Beratungsunternehmen zur Digitalisierung des Wealth Managements. Manche Broschüre liest sich wie das Manifest der Disruptiven Partei – und wie im Originalmanifest ist nicht nur ein Untergangsszenario enthalten, sondern auch ein Heilsversprechen. Beide Momente werden logisch von der Negation zusammengehalten und stilistisch häufig von einer gewissen Atemlosigkeit, die nur noch Defizite beim rastlosen Tun (24/7) kennt, keine konventionelle Ruhe mehr. Nun liegt es in der Natur der Sache, dass Beratungsunternehmen jene Prozesse, die sie beratend und implementierend begleiten, auch auf der Nachfrageseite motivierend und stimulierend vorbereiten. Dennoch spricht – um es vorsichtig zu formulieren – wenig dafür, dass die Rede vom tiefgreifenden Wandel der Vermögensverwaltung durch „Digitalisierung“ eine bloße Marketingidee ist. Im Folgenden schauen wir auf den IT-Einsatz im Wealth Management aus dem Blickwinkel von Beratungsunternehmen. Um jedoch die Gefahr einer zu stark interessenverzerrten Sicht zu mindern, konzentrieren wir uns auf Einschätzungen von Vermögensverwaltern, die von Unternehmensberatungen befragt wurden. Aufgrund der Vielzahl von Studien sowie der Komplexität und Fluidität des Gegenstandsbereichs IT / „Digitalisierung“ müssen wir uns jedoch allein schon aus Platzgründen radikal beschränken. Wir tun das, indem wir nur einige Aspekte zweier Reports, die in diesem Jahr publiziert worden sind, herausgreifen: das ist zum einen die im Januar veröffentlichte Studie von Ernest & Young „Digital Disruption in Wealth Management“ (EY2018), zum anderen der im Juli erschienene Survey von WealthBriefing „Technology and Operations Trends in the Wealth Management Industry 2018“ (WB2018).  

 

Zeitskalen und Dringlichkeit des Wandels

Ein genereller Aspekt des derzeitigen digitalen Wandels ist das relativ hohe Tempo, das auch speziell im Wealth Management diagnostiziert wird. Die drei Prognosehorizonte, die etwa EY2018 verwendet – kurzfristig: 0-12 Monate; mittelfristig: 1-3 Jahre; langfristig: 3-5 Jahre – reichen nicht allzu weit in die Ferne. In EY 2018 wurde gefragt, in welchem der genannten Zeiträume Wealth Manager mit bedeutenden digitalen Veränderungen rechnen. 42% der befragten Verwalter sahen eine solche in der mittleren Frist, 36% in der langen Frist und 23% in der kurzen Frist. Dass aber die Antizipation von IT-Entwicklungen selbst in eher „taktischen“ Zeiträumen schwierig sein kann, zeigt die teils erhebliche Differenz mancher Einschätzungen in WB2018 gegenüber dem Vorjahres-Survey. Und während in einer grundlegenden EY-Studie zur Digitalisierung (IT in Wealth Management 2015) das Wort Robo Advisor kein einziges Mal erwähnt wird, ist es in der IT-Studie EY2018 fast omnipräsent. Das dürfte nicht allein auf Unterschiede in der Schwerpunktbildung oder das Jahr “2015“ im Titel der älteren Studie zurückzuführen sein, sondern auch auf den teils schnellen Wandel von wahrscheinlichen Szenarien für die nähere Zukunft.

Welche Dringlichkeit, in IT-Systeme zu investieren, verspüren Vermögensverwalter überhaupt? Der Survey WB2018 ist dieser Frage nachgegangen. 28% der Befragten (Vorjahr 31%) waren mit ihren IT-Systemen im Wesentlichen zufrieden und möchten sie weiterhin organisch entwickeln. Von einem eher leichten Druck zur Fortentwicklung der IT berichteten 35% (Vj. 22%); sie beabsichtigen mehr in Zusatzkomponenten und Erweiterungen zu investieren. Unter starkem Druck standen 27% (Vj.28%), die ein signifikantes Upgrading bzw. Modernisierung als nötig erachteten. Das System vollständig neu ersetzen wollen nur 10% (Vj.19%). Bei den von WB2018 befragten Verwaltern sind also taktische Lösungen, die eine graduelle Entwicklung erlauben, im Vergleich zum Vorjahr wieder etwas mehr gefragt als strategisch-„disruptive“ Lösungen.

Was sind aus Sicht von Vermögensverwaltern aktuell überhaupt die wichtigsten IT-Bereiche für digitale Investments? EY2018 zufolge priorisierten 63% der Befragten (Mehrfachnennung möglich) die Verbesserung der Kundenzufriedenheit, 50% die Umsetzung von Omni-Channel-Konzepten, 50% die Inkorporation neuer Technologien (Cloud, Big Data, Robotics, AI), 40% Daten-Analytics. Ist das nun aber schon die vielbeschworene Disruption? Ja und Nein. Denn aus Sicht vieler Vermögensverwalter ist nicht ein technologischer Faktor Treiber number one aktueller „disruptiver“ Entwicklungen, sondern ein politisch-rechtlicher.

 

Disruption – Regulierung und IT

Auf die Frage in EY2018, was in den nächsten zwei bis drei Jahren für die größten organisatorischen Disruptionen sorgen werde, nannten 87% der Wealth Manager: neue Regulierungen. „Nur“ auf Rang 2 kamen mit 70% aktuelle Technologietrends (Cloud, Robotics, KI), 53% nannten neue technologiegestützte Geschäftsmodelle, 37,5% neue IT-Prozesse. Auch in den Antworten zur Frage nach dem Geschäftsfeld mit der größten Relevanz für IT-Technologie reflektiert sich der aktuelle regulatorische Druck: Ganz oben auf der Agenda steht die Erfüllung regulatorischer Vorgaben. WB2018 zeigt ebenfalls, dass Regulierungsfragen im Kontext des IT-Einsatzes bei Vermögensverwaltern die höchste Priorität haben. Zum einen stimuliert Regulierung den IT-Einsatz. Denn 48% (Vorjahr 44%) der befragten Wealth Manager sahen im IT-Einsatz eine wichtige Voraussetzung, um die wachsenden regulatorischen Vorgaben überhaupt erfüllen zu können. Die Studie WB 2018 spricht in diesem Zusammenhang von Regtech in Analogie zu und Abgrenzung von Fintech. Und der Druck von der Vorschriften-Seite dürfte nach Einschätzung der meisten Befragten weiter zunehmen. Dass das Tempo der Regulierung nachlässt, glauben nämlich die wenigsten; 57% der Vermögensverwalter glauben vielmehr an eine Tempoverschärfung in den nächsten 3 Jahren.

Erscheint verstärkte Regulierung einerseits als Treiber der Technologieanwendung, so wird sie andererseits auch als Technologiehindernis erachtet: denn die hohen Ressourcen (zeitlich, sachlich, personell usw., letztlich finanziell), die vermehrte Regulierung absorbiere, halte Verwalter davon ab, mehr in Technologie zu investieren. 89% der in WB2018 Befragten berichteten von erhöhten Kosten aufgrund des Mehr an rechtlichen Vorgaben. Das lege dem Budget entsprechende Beschränkungen auf. 44% gaben dies dann auch als Grund dafür an, nicht ausreichend in IT investieren zu können. Insgesamt sahen 61% in Regulierungen einen Grund für Verzögerungen bei IT-Investitionen. Dennoch möchten die meisten Unternehmen ihre IT-Investitionen erhöhen.

 

Organisation der IT und Anzahl der Systeme

Welche organisationalen Strukturen werden eingesetzt, um IT-Funktionen zu integrieren? Und welche Zusammenhänge bestehen zwischen Organisationsweise und anderen Kenngrößen. Gemäß Survey EY2018 richteten 37% der Befragten ihre IT insbesondere an den Lebenszyklen der Software aus. Im Unterschied zu den anderen Organisationsmodellen hat ihre IT zugleich die größere Wirtschaftlichkeit; hier ist die IT-Cost-Income-Rate mit 8,4% knapp überdurchschnittlich. Bei 27% steht Outsourcing im Zentrum des IT-Einsatzes; diese Verwaltungen haben dann auch eine deutlich höhere IT-Outsourcing-Ratio (62% vs. 35%); die IT-Cost-Income-Rate beträgt 8,3%. 20% strukturieren sie um Kerntechnologien und als insulare Systeme (IT-Silos), bei denen der Austausch mit anderen Datensystemen nicht möglich ist; die IT-Cost-Income-Rate liegt hier bei relativ hohen 9,4%. Und bei 17% stehen agile Formen im Zentrum; diese Verwaltungen haben eine höhere Change Ratio als andere (50% vs. 42%), der IT-Kostenanteil ist geringer (7,7% vs. 10,2%), ebenso die IT-Cost-Income-Ratio (5,7% vs. 8,0%). Zudem gehören 44% der Wealth Manager mit agilen Modellen zur Best-Practice-IT-Gruppe (andere Gruppen 17%.)

Outsourcing, das vor dem Hintergrund rapide wachsender Cloudlösungen immer populärer wird, war eines der Oberthemen bei der Befragung in WB2018. Beinahe die Hälfte der Befragten (2018: 49%; Vorjahr: 45%) möchte den Weg der Auslagerung beschreiten, während nur 7% (Vorjahr 16%) von dieser Option nichts halten. Motive für Outsourcing sind an erster Stelle Effizienzgesichtspunkte (82% der Befragten), gefolgt von erhofften Verbesserungen der Service-Qualität (77%). Dass Outsourcing weiter zunehmen werde, glauben 84% der Befragten, keiner glaubt an einen Rückgang. Allerdings wurden im Zusammenhang mit Outsourcing auch Befürchtungen artikuliert. 67 Prozent der Wealth Manager sorgen sich um die Datensicherheit, 46% (2017: 21%) rechnen mit Problemen bei der Integration (veraltete Systeme, mangelnde Konnektivität usw.), für 37% stellen sich offene regulatorische Fragen (37%) und 27% verweisen auf die Kosten.  

Interessant ist auch die in WB2018 behandelte Frage zur Anzahl der von den Vermögensverwaltern eingesetzten Portfoliomanagement-Systeme (Konstruktion, Verwaltung, Überwachung und Reporting). Die meisten der befragten Häuser greifen auf mehrere IT-Systeme zurück (siehe Grafik): immerhin 46% benutzen vier oder mehr Systeme. Die Studienautoren erachten den Einsatz vieler IT Systeme in diesem Aufgabenfeld als bedeutende Ursachen von Ineffizienzen. Nicht unbedingt ein Wunder also, wenn die befragten Vermögensverwalter die von manuellen Tätigkeiten durchwirkte Zusammenstellung von Performance-Reports als Quelle von Ineffizienzen in der konkreten Praxis ganz oben einordnen. Hier wäre eine „Verschlankung“ das Mittel der Wahl.

 

 

 

Fazit

Als Eindruck der beiden Befragungen bleibt: Nicht überall im Wealth Management scheint im Zusammenhang mit IT das „Gespenst der Disruption“ umzugehen – es spukt noch nicht einmal in jedem Winkel von Reports über digitale Disruption. Graduelle Adaption, Updates, Modernisierung, Straffung der Prozesse, der stets erforderliche Rückschnitt von sich im Laufe der Zeit aufbauender, überflüssiger Komplexität, Zusatzkomponenten und Ergänzungen – vielfach also eher wichtige taktisch-evolutionäre Prozesse scheinen die aktuelle Fortentwicklung der IT bei vielen Vermögensverwaltern mehr zu bestimmen als strategisch-revolutionäre Projekte, die im Grenzfall in kurzer Zeit die gesamte Organisation umwälzen. Ob man dann jenseits vom Marketing-Sprech noch guten Gewissens immerfort das buzz word „Disruption“ bis zum Abwinken verwenden möchte, wäre inhaltlich zunächst einmal eine Frage einer präzisen begrifflichen Definition, die als Konsens gilt. Solange es eine solche nicht gibt, ist auch das Schlagwort „Zerreißprobe“ eine rhetorische Option.  

 

 

Link zur Studie „Digital Disruption in Wealth Management“ (EY2018)

https://www.ey.com/Publication/vwLUAssets/ey-digital-disruption-in-wealth-management.pdf/$File/ey-digital-disruption-in-wealth-management.pdf

 

 

Link zur Studie „Technology and Operations Trends in the Wealth Management Industry 2018“ (WB2018)

http://clearviewpublishing.com/wp-content/uploads/2018/05/Technology-Operations-Trends-in-Wealth-Management-2018.pdf

 

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