Theorie und Praxis

Paul A. Samuelson und die Diskussion um den Anlagehorizont

Elmar Peine -

 

Geringeres Risiko mit längerem Anlagehorizont?

Praktiker neigen zu der Einschätzung, ein längerer Anlagehorizont reduziere das Risiko. Paul A. Samuelson bewies in den 60er Jahren theoretisch, dass dies nicht zutrifft. Damit war die Debatte zur „Zeitdiversifikation“ eröffnet, die bis heute anhält. Ein jüngst erschienener Survey gibt einen Überblick über den aktuellen Stand der Debatte.

 

Paul A. Samuelson, der von 1919 bis 2009 lebte, trieb seit den 40er Jahren entscheidend den Durchbruch der mathematischen Methode in den Wirtschaftswissenschaften voran. Seit den 60er Jahren beschäftigte er sich auch mit dem Zusammenhang von Risiko und Anlagehorizont, der sogenannten Zeitdiversifikation.

 

Viele Praktiker glauben, dass sich das Risiko etwa eines Aktieninvestments verringere, wenn man den Anlagehorizont verlängere, also beispielsweise statt eines zweijährigen einen vierzigjährigen Zeitraum betrachte. Erfahrung mag sie darin bestärken, und schnell wird häufig das als evident Erachtete zum Selbstverständlichen. Aber zurecht? Oder handelt es sich dabei am Ende doch nur um ein Vorurteil? Theoretiker möchten so etwas immer ganz genau wissen. Sie glauben, sofern sie der ökonomischen Fakultät angehören, dass die adäquate Antwort auf solche Fragen mathematische Modelle seien. Die moderne Portfoliotheorie von Markowitz entsprach zwar dieser Modellanforderung. Sie konnte jedoch in den 50er Jahren zur Klärung der Frage des Anlagehorizonts wenig beitragen. Denn sie betrachtet nur eine Anlageperiode. Das änderte sich in den 60er Jahren, als der führende mathematische Ökonom dieser Zeit, der spätere (1970) Wirtschaftsnobelpreisträger Paul A. Samuelson, für das Horizontproblem eine Lösung vorschlug. Er konnte mathematisch nachweisen, dass eine Verlängerung des Anlagehorizonts zu keiner Reduzierung des Risikos führt. Eine Aktienanlage ist demzufolge über 40 Jahre nicht weniger riskant als über 2 Jahre. Viele Praktiker erachteten dieses Ergebnis als absurd und neigten dazu, es als eine der üblichen Kuriositäten des Elfenbeinturms zu ignorieren. Die wissenschaftliche Debatte über das Problem der sogenannten Zeitdiversifikation war damit jedoch eröffnet. Sie ist bis heute nicht abgeschlossen.

 

Zu welchen Erkenntnissen ist die Wissenschaft seither gelangt?

Der 2016 im Financial Planning Research Journal (Vol.2.No.2) erschienene Artikel „The Time Diversification Puzzle: A Survey“ von Robert Bianchi, Michael Dew und Adam Walk ist nach unserer Recherche der neuste systematische Überblick über den aktuellen Stand der Debatte. Im Folgenden beziehen wir uns daher vor allem auf diesen Beitrag. Hilfreich dürfte für Leser, die an einer vertiefenden deutschsprachigen Darstellung interessiert sind, immer noch ein Arbeitspapier mit dem Titel „Über kurz oder lang – Welche Rolle spielt der Anlagehorizont bei Investitionsentscheidungen“ von Klos, Langer und Weber sein, das 2002 im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 504 an der Universität Mannheim verfasst wurde. Der Artikel referiert gleichfalls die Literatur und geht zudem etwas näher auf grundlegende Argumente und verbreitete Missverständnisse ein. Links zu beiden Studien befinden sich am Ende unseres Artikels.

 

Der Ansatz von Samuelson

Die Ausgangsidee von Samuelson beruht auf einer Generalisierung des Diversifikationsgedankens der modernen Portfoliotheorie. Markowitz zeigt, wie sich das optimale Portfolio unter Berücksichtigung der risikomindernden Diversifikation von n Assets im Anlageraum (oder „-universum“) bestimmen lässt. Zeit spielt hierbei keine Rolle, da nur eine Periode betrachtet wird. Samuelson stellte nun die Frage, ob bei Betrachtung von t Perioden sich mit zunehmender Zeit das Risiko eines Wertpapiers analog reduzieren lässt. Die „anlagezeitliche“ Diversifikation über t Perioden eines Wertpapiers wäre dann im Hinblick auf das Risiko äquivalent mit einer „anlageräumlichen“ Risikoreduktion durch n Wertpapiere. Daher spricht man auch von Zeitdiversifikation. Mit anderen Worten: In diesem Fall müsste sich das Risiko etwa einer Aktie mit länger werdendem Anlagehorizont verringern. Das ist auch die Erwartung, die viele Praktiker hegen. Samuelson kam jedoch, wie gesagt, zu dem Ergebnis, dass sich das Risiko in diesem Fall nicht ändert, sondern dass es gleich bleibt. Theorie und Praxis schienen im Widerspruch zu stehen. Damit begann die Zeitdiversifikations-Debatte.

 

Bianchi et al. unterscheiden nun bei Samuelson vereinfachend drei Grundannahmen, auf denen sein Modell des Anlagehorizonts basiert.

  1. a) Investoren haben eine konstante relative Risikoaversion
  2. b) Erträge gehorchen einem Random Walk
  3. c) Das Vermögen ist eine Funktion allein der Erträge.

 

Der größte Teil der Beiträge zum Problem der Zeitdiversifikation drehe sich, so Bianchi et al., um die beiden Annahmen a und b. Die Voraussetzung c werde von den meisten Autoren als unproblematisch erachtet. Erst in neuerer Zeit sei auch dieses Postulat unter Beschuss geraten. Im Folgenden wird sich die Darstellung daher zunächst auf die ersten beiden Voraussetzungen beschränken. Die dritte Annahme wird erst am Schluss problematisiert.

 

Bianchi et al. teilen die Zeitdiversifikations-Debatte in vier Strömungen ein. Zwei davon kann man in eine modelltheoretische Schublade stecken und zwei in eine mehr empirisch-anwendungsorientierte. Die beiden hauptsächlichen modelltheoretischen Ansätze sind 1) die Erwartungsnutzentheorie, die auch Samuelson als Grundlage diente, und 2) die Optionspreistheorie. Zu den stärker empirisch orientierten Richtungen gehören 3) die Verhaltensökonomie (Behavioral Finance) und 4) Untersuchungen zu Zeitreihen, die auf historischen Daten und Simulationen beruhen. Zwischen 1 und 3 sowie 1/2 und 4 bestehen Zusammenhänge der Kritik. Die Erwartungsnutzentheorie verwendet explizit Annahmen über die „subjektive“ Investorenseite – die Optionspreistheorie nicht. Dementsprechend übt die psychologisch informierte Verhaltensökonomie (3) vor allem empirische Kritik an der die „subjektive“ Seite modellierenden Erwartungsnutzungstheorie (1). Und weil in Zeitreihenstudien (4) sich die verwendeten Risikomaße als entscheidend erweisen, üben diese häufig empirische Kritik an der „objektiven“ (auf die Anlageobjekte bezogenen) Risiko-Seite der dominierenden theoretischen Ansätze (1,2).  

 

Erwartungsnutzentheorie

Die theoretische Grundannahme (Paradigma) Samuelsons ist die Erwartungsnutzentheorie. Hierbei wird zunächst die Risikotoleranz des Investors definiert und dann ein Zusammenhang zwischen Risiko und Investitionshorizont hergestellt. In der Literatur werden vor allem zwei Aspekte dieses Ansatzes besonders kritisiert: er sei erstens „normativ“, erfasse also nicht die tatsächliche Risikowahrnehmung der Investoren, sondern eine a priori konstruierte, indem eine konstante relative Risikoaversion unterstellt wird. Zweitens ist die Lösung des Zeitdiversifikationsproblems stark sensitiv gegenüber bereits geringfügigen Variationen der unterstellten Annahmen. Das ist der entscheidende Punkt. Eine vielzitierte Studie von Kritzman und Rich etwa unterschied eine Vielzahl von Konstellationen innerhalb des Erwartungsnutzens-Paradigmas in Abhängigkeit von unterschiedlichen Spezifikationen: Die Nutzenfunktion kann verschieden modelliert werden (5 Varianten in Abhängigkeit von der gewählten Form der Funktion), ebenso der Ertrags-Prozess in der Zeit (Random Walk, Mean Reversion, Mean Aversion) und schließlich auch die Risikopräferenz (absolute oder relative Risikoaversion). Je nach Spezifikation bleibt das Risiko bei längerem Anlagehorizont konstant (Samuelson-Lösung) oder es reduziert sich im Sinne der Zeitdiversifikation (Erwartung vieler Praktiker). Da es nun  unter den an der Debatte beteiligten Wissenschaftlern keinen Konsens über die Spezifizierungen gibt, gibt es innerhalb des Erwartungsnutzen-Paradigmas auch keinen Konsens darüber, ob Zeitdiversifikation existiert oder nicht. Die Debatte habe daher – so Bianchi et al. – die Neigung, sich zunehmend auf theoretische Annahmen und Spezifizierungen der Modelle zu konzentrieren und damit von der Realität wegzuführen, mit der Praktiker zu tun haben.  

 

Optionspreistheorie

Der erste Wissenschaftler, der die Optionspreistheorie zur Analyse von Renteninvestitionsplänen nutzte, war Bodie. Während Samuelson das Risiko indirekt durch die Assetallokation abbildete, bildete es Bodie über die Kosten der Versicherung gegenüber dem Shortfall-Risiko (also dem Risiko, eine bestimmte Zielgröße nicht zu erreichen) ab. Der Vorteil dieses Modell wird vielfach darin gesehen, dass es „objektiv“ insofern ist, als keine Annahmen über Nutzenfunktionen und Risikoaversion, also über die „subjektive“ Seite einer Investition gemacht werden müssen. Das Ergebnis, das Bodie mit seinem Optionspreisansatz erzielte, toppte jenes von Samuelson noch: denn das Risiko eines Wertpapiers nahm in seinem Modell mit der Länge des Zeithorizonts zu. Die Aktienquote musste also mit Verlängerung des Anlagezeitraums reduziert werden. Auch wenn im Rahmen des Optionspreismodells bedeutsame Erweiterungen durchgeführt wurden, wie etwa die Berücksichtigung des Humankapitals als Vermögenskomponente, zeigt sich auch innerhalb dieses Paradigmas dasselbe Problem wie bei der Erwartungsnutzentheorie: das Ergebnis ist von den Spezifikationen abhängig, wie etwa der Annahme einer konstanten Standardabweichung. Bei anderer Spezifikation kann auch innerhalb dieser Modellklasse ein Rückgang des Risikos bei Verlängerung des Anlagehorizonts, also Zeitdiversifikation, abgeleitet werden.

 

Probleme der Theorie

In der Zeitdiversifikations-Debatte dominieren zwei Paradigmen. Es zeigt sich aber, dass die Antwort auf die Frage, ob Zeitdiversifikation (in der Modellwelt) „exisitiert“ oder nicht, weniger von der Wahl zwischen Paradigmen, als vielmehr von der Spezifikation innerhalb der beiden Paradigmen abhängt.

Damit besteht nach Beobachtung von Bianchi et al. die Neigung, dass die theoretische Debatte ohne praxisorientierte empirische „Erdung“ zum Streit zwischen Paradigmen oder zwischen Spezifikationen degeneriert, während das Verhältnis von Zeithorizont und Risiko, also das eigentliche Problem, in den Hintergrund tritt. Daher wird die stärkere Rückbindung an empirische Ansätze gefordert, um nicht in einer Parallelwelt theoretischen Spekulierens zu enden. Das ist dann auch das erklärte Ziel von verhaltensökonomischen und Zeitreihen- bzw. Simulationsstudien.

 

Verhaltensökonomie

Aufgrund der stärker an psychologischen Erkenntnissen ausgerichteten Herangehensweise der Verhaltensökonomie ist deren Beitrag zur Debatte um die Zeitdiversifikation vor allem „Kritik“ an Annahmen der ENT. So konnte z.B. gezeigt werden, dass Entscheider additive Risikomodelle benutzen, nicht multiplikative, wie von der ENT unterstellt. Oder dass die Höhe des Verlustes aus Sicht von Investoren nicht nur ein wichtiger Risikoaspekt, sondern der hauptsächliche Gesichtspunkt ist. Deshalb werde die Höhe des Verlusts viel stärker gewichtet als dessen Wahrscheinlichkeit. Die nicht allzu zahlreichen verhaltensökonomischen Studien, die sich mit dem Problem der Zeitdiversifikation beschäftigten, begründen jedoch Bianchi et al. zufolge keine eigenständigen theoretischen Ansätze, sondern steuern Erkenntnisse über reales Verhalten der Investoren bei. Insofern können sie bislang bei der Spezifikation den Raum des theoretisch Möglichen empirisch einschränken, d.h. insbesondere zu Modifikationen im Umkreis der Erwartungsnutzenmodelle beitragen.  

 

Zeitreihen- und Simulationsstudien

Diese Klasse von Studien baut auf historischen Daten auf und nutzt zudem Simulationstechniken. Das Problem ist hier insbesondere an der Kopplungsstelle von Messung und Modell zu verorten. Gemessen werden soll das Risiko und also ist das Risikomaß als modellhaftes Werkzeug zur Erfassung der Realität entscheidend. Auch hier zeigt sich jedoch wiederum, dass die Ergebnisse zur Zeitdiversifikation sehr stark vom gewählten Risikomaß abhängen. Wurde etwa in Studien zu Zeitreihen die Standardabweichung der annualisierten Erträge gewählt, sank häufig das Risiko mit Verlängerung des Anlagehorizonts in Einklang mit den Erwartungen der Praktiker. Bei Anwendung der Standardabweichung einer anderen Ertragsvariante ergab sich das gegenteilige Ergebnis. Ähnliches gilt für Variationen bei Downside- oder Shortfall-Risikomaßen oder für risikoadjustierte Maße (Sharpe Ratio, Treynor Ratio, Sortino Ratio S.33). Auch das extra für den Zweck der Zeitdiversifikation konstruierte Maß T* führt zu keinem eindeutigen Ergebnis, während sich bei Verwendung des Time Diversifikation Index bisher keine starken Hinweise auf Zeitdiversifikation ergaben. Das Problem hier ist also bereits aus der Theoriedebatte bekannt: Wenn die „Empirie“ selber empfindlich gegenüber Veränderung der theorieabhängigen Maße ist, dann kann sie die Vielfalt der „reinen theoretischen Vernunft“ bzw. der Spekulation in der Modellwelt auch nur schwer im Namen der Wirklichkeit reduzieren.

 

Weitere problematische Modell-Annahmen

Die dritte Annahme von Samuelson lautet, dass Vermögen die Funktion allein von Erträgen ist. In den meisten Beiträgen wird dies oder zudem noch eine Anfangsausstattung als vereinfachende Annahme unterstellt und als unproblematisch erachtet. Bianchi et al. weisen aber darauf hin, dass heute Langzeitentscheidungen vor dem Hintergrund von Beiträgen / Einkommen / bzw. generell Zuflüssen / Abflüssen getroffen werden. Sie konstatieren, dass diese für die Praxis wichtigen Zusammenhänge im Kontext des Zeitdiversifikationsdebatte untererforscht seien. Eine weitere Annahme, die zunehmend in Widerspruch zur Realität gerate, sei die Unterstellung einer konstanten Vermögensallokation, die in der Debatte mit einer Fixierung auf Aktien verbunden sei. Das könne aber dem modernen Portfoliodesign nicht mehr entsprechen, da heute vielfach zeitlich variable Strategien zum Einsatz kämen.

 

Fazit: Ungelöstes Zeitdiversifkationsproblem

Offenkundig wurde, dass seit den bahnbrechenden Veröffentlichungen von Samuelson in den 60er Jahren mit der zunehmenden Dauer der Zeit, in der sich die Wissenschaft mit dem Problem der Zeitdiversifikation beschäftigte, die Lösungsvorschläge sich vervielfältigten und damit selber gewissermaßen diversifizierten: Das gilt u.a. für die Wahl des Erkenntniszugangs, für die Selektion eines Paradigmas, für die Spezifikation eines Modells innerhalb eines Paradigmas, für die Operationalisierung des Risikobegriffs. Mit der Vielfalt der „Lösungs-Angebote“ nimmt aber die Eindeutigkeit, die man von einer Lösung erwartet, nicht zu, sondern ab. Die Ergebnisse schwanken mehr denn je zwischen Zunahme, Konstanz und Abnahme des Risikos bei Verlängerung des Zeithorizonts und das scheint auf ein gefühltes Unentschieden der Debatte hinauszulaufen. Eine einheitliche Theorie, die eine Synthese darstellen würde und Konsens in der Wissenschaft wäre, scheint nicht in Reichweite zu sein. Aber auch die Empirie, die Messung des Risikos, scheint eher Vieldeutigkeit statt Eindeutigkeit zu produzieren. Das kann natürlich auch an der Wirklichkeit selber liegen, nicht nur am Mangel der Werkzeuge oder der Modelle. Jedenfalls ist das Problem der Zeitdiversifikation immer noch nicht gelöst; seine Lösung scheint mit dem Fortschreiten der Wissenschaft eher schwieriger zu werden. Ja, man könnte glauben, das Problem sei geradezu „unlösbar“. Aber vielleicht liegt das ja auch in der Natur der Wissenschaft.

 

Links:

 

Link zum Survey von Bianchi, Drew und Walk:

THE TIME DIVERSIFICATION PUZZLE: A SURVEY

 

https://www.griffith.edu.au/__data/assets/pdf_file/0009/930717/time-diversification-puzzle-bianchi-drew-walk.pdf

 

 

Link zum Arbeitspapier von Klos, Langer und Weber:

Über kurz oder lang - Welche Rolle spielt der

Anlagehorizont bei Investitionsentscheidungen?

https://ub-madoc.bib.uni-mannheim.de/2782/1/dp02_49.pdf

 

 

Link zum ersten Aufsatz von Samuelson 1963:

Risk and Uncertainty, Fallacy of great numbers

https://www.casact.org/pubs/forum/94sforum/94sf049.pdf

 

    

Link zum sehr technischen Aufsatz von Samuelson 1969:

Lifetime Portfolio Selection By Dynamic Stochastic Programming

http://www.wiwi.uni-muenster.de/05/download/studium/stodynopt/literature/samuelson1969.pdf

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Zurück