Über den Nutzen der Mathematik

Gespräch: Mathematischer (Un-) Sinn

Gastautor -

Prof. DDr. Hannes Leitgeb, Chair and Head of the Munich Center for Mathematical Philosophy, und Alexander Raviol, Partner und Head of Alternative Solutions bei Lupus alpha, diskutieren über die Möglichkeiten und Grenzen mathematischer Modelle in der Finanzwelt. Der Text erschien zuerst im leitwolf-Magazin. Das Gespräch führte Susanne Bordes. Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung der Lupus alpha Asset Management AG.

Protokolliert von Anna-Maria Borse.

Hannes Leitgeb studierte Mathematik an der Universität Salzburg und promovierte in Mathematik (1998) und Philosophie (2001). Im Rahmen eines Erwin-Schrödinger-Stipendiums forschte er ab 2004 am Department of Philosophy/CSLI der Stanford University. Ab 2007 lehrte er am Department of Philosophy und der School of Mathematics an der University of Bristol. Seit 2010 ist er Alexander von Humboldt-Professor und Lehrstuhlinhaber an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Foto: Markus Kirchgässner

Leitwolf: Die globale Finanzkrise hat viele grundlegende Fragen aufgeworfen, die Investoren seither bewegen. Darunter: Sind mathematische Methoden in den Finanz- und Wirtschaftswissenschaften überhaupt sinnvoll einsetzbar, wo doch die vielen komplexen mathematischen Modelle nicht vor den Anleger- und Systemrisiken der Krise gewarnt haben?

Prof. DDr. Hannes Leitgeb: Ich forsche zwar allgemein zu den Grundlagen der Mathematik und ihren Anwendungen, nicht speziell zur Mathematik der Ökonomie. Aber: Ich war schockiert, dass die Anwendbarkeit der Mathematik in den Wirtschaftswissenschaften überhaupt angezweifelt wurde. Für mich gehört die prinzipielle Mathematisierung zum letztlichen Ziel der Wissenschaftlichkeit. Auch für die Wirtschaftswissenschaften habe ich da keine Zweifel.

Alexander Raviol: Ich bin eher skeptisch. Vielleicht nicht prinzipiell, aber in der Praxis. Da müssen wir reflektieren, was wir tun. Der Einsatz mathematischer Methoden kann auch eine Scheinwirklichkeit und Scheinsicherheit schaffen, so dass es teilweise sogar weniger gefährlich wäre, wenn man auf sie verzichtete.

Prof. DDr. Hannes Leitgeb: Das will ich gar nicht in Abrede stellen. Mich wundert sogar oft der Optimismus in Bezug auf die Aussagekraft mathematischer Modelle. Im Unterschied zum Beispiel zur „Paradewissenschaft“ Physik scheint mir die Anwendbarkeit der Mathematik in den Wirtschaftswissenschaften auf zusätzliche Schwierigkeiten zu stoßen. Die erste ist, dass der Anwendungsbereich unglaublich komplex ist. Beschreibe ich in der Physik zum Beispiel ein Planetensystem, so handelt es sich um ein geschlossenes System ohne Energieaustausch nach außen. Ein Markt ist aber ein offenes System mit sehr viel Austausch und damit viel komplexer.

Leitwolf: Könnte man sich in der Ökonomie an anderen Wissenschaften orientieren und was bedeutet das?

Prof. DDr. Hannes Leitgeb: Mir scheint es viele Ähnlichkeiten mit den Lebenswissenschaften, zum Beispiel der Biologie, zu geben: Die Evolutionstheorie hat auch große Probleme, Einzelereignisse vorherzusagen, sie kann nicht prognostizieren, welche neue Art sich entwickeln wird. Sie ist aber recht erfolgreich in der Erklärung von Langzeitentwicklungen. Niemand würde aus der Schwierigkeit, kurzfristige Prognosen zu treffen, schließen, dass prinzipiell mathematische Methoden in der Evolutionstheorie keinen Platz hätten oder die Evolutionstheorie im Argen läge. Auch in der Ökonomie geht es nicht um Einzelpersonen, sondern vielmehr um soziale Phänomene, den Markt also. Auf dieser Ebene fallen Beschreibungen dann doch schon leichter.

Alexander Raviol: Tatsache ist aber, dass selbst das nicht die Ergebnisse liefert, wie sie viele erwarten. Die Modelle werden immer komplizierter, sie funktionieren aber nicht. Selbst die US-Notenbankchefin Janet Yellen hat zuletzt eingeräumt, dass die Modelle, mit denen die Notenbanker arbeiten, immer wieder verworfen werden.

Prof. DDr. Hannes Leitgeb: Der Anspruch ist sicherlich zu hoch. Andere Wissenschaftler, selbst Physiker, werden übrigens auch nicht von Politikern angerufen und gefragt, was zu tun ist.

Leitwolf: Gibt es neben der Komplexität weitere Gründe, die Anwendung von Mathematik in der Ökonomie nicht nach dem Muster der Physik zu denken?

Alexander Raviol: Die Physik beruht darauf, dass Experimente durchgeführt werden können. So kommt man zu Theorien, die sich wiederum in Experimenten bestätigen müssen. Beim Aufstellen dieser Theorien ist die Mathematik ein wesentliches und unglaublich mächtiges Hilfsmittel. Diese Vorgehensweise ist in der Ökonomie grundsätzlich nicht möglich. Darüberhinaus verändern Menschen ihre Präferenzen und ihr Verhalten ständig und oft auch gravierend. Dem Einsatz mathematischer Modelle sind daher enge Grenzen gesetzt.

Prof. DDr. Hannes Leitgeb: Physiker waren enorm erfolgreich darin, alles messbar zu machen. Sie können in nahezu allen Fragestellungen numerisch basiert arbeiten. Das ist vermutlich im finanzwirtschaftlichen Bereich nicht möglich. Vielmehr muss man qualitative mit quantitativen Informationen in Einklang bringen und das ist ungleich schwieriger. Dies ist ein Thema, an dem ich aktuell forsche – auf einer ganz allgemeinen Ebene.

Leitwolf: Was macht die Schwierigkeit aus, wenn qualitative mit quantitativen Informationen zusammentreffen?

Prof. DDr. Hannes Leitgeb: Hier stehen zwei Modelle einander gegenüber, Überzeugungen zu modellieren. Das eine ist die Alles-oder Nichts-Variante. So kann ich Sie fragen, wie das Wetter morgen wird. Sie können sagen „gut“ oder „schlecht“, Numerische Parameter sind nicht involviert. Ich kann Sie aber auch fragen, für wie wahrscheinlich Sie es halten, dass das Wetter morgen schön ist – auf einer Skala zwischen 0 und 1. Das ist die numerische oder probabilistische Beschreibung von Überzeugungen.

Leitwolf: Was heißt das für die Ökonomie?

Prof. DDr. Hannes Leitgeb: Ich würde die Hypothese aufstellen, dass in allen wissenschaftlichen Bereichen, in denen man qualitative und quantitative Informationen unreflektiert zusammenbringt, es sehr leicht möglich ist, zu einem Ergebnis zu kommen, das auf keinen Fall richtig sein kann. Mindestens ist Vorsicht geboten, denn meine Forschungsergebnisse besagen: Wenn ich probabilistische Daten habe und diese mit qualitativen mische, ist das, was herauskommt, sehr sensibel in Bezug auf die Parameter, die ich in das Modell stecke.

Leitwolf: Noch ein Unterschied, den Sie herausstellen würden?

Prof. DDr. Hannes Leitgeb: Ein wichtiger Unterschied ist der, dass eine Theorie im  Bereich Wirtschaft, sobald ich diese aufstelle, zu Veränderungen führen kann. Das heißt, dass Akteure im Markt ihr Verhalten wegen dieser Theorie ändern. Dies ist das Phänomen der sich selbst widerlegenden oder selbst erfüllenden Theorien. Es könnte sein, dass dies für einige ökonomische Modelle gilt.

Alexander Raviol: Gerade bei Modellen, auf denen Anlagestrategien aufbauen, lassen sich meines Erachtens zwei mögliche Effekte beobachten. Entdecke ich zum Beispiel Anomalien in der Aktienkursentwicklung und verdiene damit Geld, kann es sein, dass, wenn andere davon erfahren und es ebenfalls umsetzen, die Anomalie verschwindet, sie wird arbitriert. Es kann aber auch sein, dass eine Theorie sich nur deshalb zu bewahrheiten scheint, weil sie bekannt ist und angewandt wird. Ich denke da beispielsweise an die Charttechnik.

Leitwolf: Betrifft diese Auswirkung auf Märkte nur die Modelle hinter Anlagestrategien?

Alexander Raviol: Nein. Notenbanker wie Janet Yellen beeinflussen mit ihren Aussagen ganze Ökonomien, deren Zustand wiederum die Notenbankpolitik beeinflusst. Diese Rückkopplungseffekte oder Interaktionen sind in der Regel in ökonomischen Modellen nicht berücksichtigt.

Leitwolf: Ist dies denn kein grundlegendes Problem für die Mathematisierbarkeit?

Prof. DDr. Hannes Leitgeb: Das ist sicher nicht so. In der Tat sind Theorien gefragt, die diese höherstufigen Informationen einbeziehen. Es gibt bereits einfache Modelle, die allerdings von einer Praxisanwendung noch weit entfernt sind– etwa logische Modelle sogenannter Informationskaskaden. Sie können gut beschreiben, wie Überzeugungen und Handlungen von Einzelpersonen nicht nur von eigenen Informationen abhängen, sondern von höherstufigen Informationen, also davon, was andere denken. Diese höherstufigen Informationen müssten als Input berücksichtigt werden.

 

 

Alexander Raviol, Partner und Head of Alternative Solutions bei Lupus alpha. Foto: Markus Kirchgässner

 

AlexanderRaviol: Ich freue mich über Ihren grundsätzlichen Optimismus. Aus dem Blickwinkel der Praxis in der Volkswirtschaft und der Finanzmathematik ist es bis dahin aber noch ein weiter Weg. Asset Manager tun also gut daran, jederzeit kritisch zu hinterfragen, was mathematische Modelle tatsächlich aussagen können, wo sich Risiken ergeben und wo darauf zu achten ist, dass sich aus dem Mix quantitativer und qualitativer Informationen keine Fehlschlüsse ergeben.

Leitwolf: Herr Professor Leitgeb, Herr Raviol, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung der Lupus alpha Asset Management AG

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