Diversifikation – „the only free lunch”?
Der Finanzprofessor Dirk G. Baur hat über die Frage nachgedacht, ob Diversifikation ein "free lunch" ist oder doch Kosten verursacht.

Free Lunch? Das müsste Professor Baur hier noch ergründen. Dem Titel des Bildes „Die Austernmahlzeit“ (Le Déjeuner d'huîtres) von Jean François de Troy ist zumindest zu entnehmen, dass die Herren der Runde die Assetklasse der Austern wählten. Nach dem Bild zu urteilen diversifizierten sie nicht nur unter den gustatorisch eher stärker korrelierten Austern, sondern mischten zudem auch noch ordentlich Liquidität bei. Man könnte meinen, dass der Genuss-Return mit jeder neuen Auster und jedem neuen Schluck (Diversifikation) stieg, allerdings mit abnehmendem Zuwachs. Jedoch dürfte sich das Risiko, auf volatileren Beinen den Tisch zu verlassen, gleichfalls kräftig erhöht haben.
Eine unter Anlegern bekannte Sentenz lautet, „diversification is the only free lunch“, also das einzige Mittagsmahl, das an den Finanzmärkten umsonst serviert wird. Häufig wird der Spruch Harry Markowitz, dem Begründer der modernen Portfolio-Theorie, zugeschrieben. Technisch wird der Satz meist so verstanden, dass Diversifikation das Risiko eines Portfolios reduziert ohne Kosten in Form einer verringerten Rendite. Andererseits wird unter Wirtschaftswissenschaftlern eine apodiktische Aussage von Milton Friedman kolportiert, die lautet “there is no such thing as a free lunch” – also auch bei Diversifikation kein Gratis-Mittagessen? Wer hat nun recht? Beide Herren bekamen den (Para-)Nobelpreis für Ökonomie zugesprochen, insofern stünde es unentschieden. Gehen wir also in die Verlängerung und bemühen als spielentscheidendes Tor die grundlegende Finanz-Doktrin, dass höhere Renditen der „Lohn“ für höheres Risiko sind. Das spräche gegen „free lunch“, so dass es 2:1 für Friedman stehen würde. Wer nun aber fest daran glaubt, dass Nobelpreisträger unfehlbar sind, kann diesen Glauben nur durch den Schluss retten, dass mindestens eine der Aussagen einem der Herren fälschlicherweise zugeschrieben wird.
Der in Australien lehrende Finanzprofessor Dirk G. Baur ist diesem Free-Lunch-Problem nachgegangen. Baur bekundet glaubhaft, dass er (nach seinem besten Wissen) der erste Finanzwissenschaftler sei, der der Free-Lunch-Sentenz wirklich auf den Zahn gefühlt habe. Das erste Ergebnis seiner Nachforschungen ist: Er findet keinen Beleg für die Autorschaft von Markowitz. Das zweite Ergebnis: Baur hat der Sentenz nicht nur auf den Zahn gefühlt, sondern hat ihr bei wissenden Anlegern den Weisheitszahn gezogen, bei unwissenden allerdings nicht.
Markowitz-Anleger
Markowitz unterstellt in seinem Modell, dass den Finanzteilnehmern die zukünftige Rendite (Erwartungswert der Gaußschen Renditeverteilung) und das Risiko (Standardabweichung der Gaußschen Renditeverteilung) der einzelnen Wertpapiere bekannt ist. Damit können Anleger die Assets eines Universums nach Größe der erwarteten Rendite anordnen: Zuerst die höchste Rendite, dann die zweithöchste usw.
Baur unterscheidet auf dieser Grundlage zunächst zwei Typen von Anlegern, die er später noch um einen dritten Typ erweitert: Informierte Anleger erfüllen die Markowitz-Annahme und können eine Ordnungsreihe der Renditen bilden. Nichtinformierte Anleger können dies nicht, weil sie sie Renditen und Standardabweichungen nicht kennen; ihre Wertpapierselektion erfolgt nach dem Zufallsprinzip.
Baur analysiert nun das „Free-Lunch-Argument“ theoretisch und empirisch. In seiner theoretischen Analyse vereinfacht er die Argumentation auf den Modellfall von nur zwei Aktien. Dabei betrachtet er in einem ersten Schritt nur die Renditen der Aktien, in einem zweiten auch die Risiken.
Reine Renditebetrachtung
Ein Free Lunch ist ein finanzieller Vorteil für eine Leistung. Soll die „Leistung“ Diversifikation im Hinblick nur auf die Renditen (und nicht auf das Risiko) einen monetären Vorteil erbringen, sollte die Rendite eines Portfolios durch Diversifikation – also durch Hinzunahme eines weiteren Assets – steigen. Wenn sie gleich bleibt oder sinkt, erbringt die Diversifikation keinen Vorteil. Da informierte Anleger im Sinne von Markowitz die Renditen nach Größe aufreihen können, werden sie als erstes Asset für ihr Portfolio die höchste Rendite wählen, als zweites die zweithöchste usw. Damit wird die Rendite mit Diversifikation fallen. Und damit ist Diversifikation allein bei Betrachtung der Renditen für diese Anleger kein Free Lunch.
Anders verhält es sich bei uninformierten Anlegern, die zufällig auswählen. Hier besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass sich durch Hinzufügung weiterer Assets die Portfolio-Rendite erhöht. In diesem Fall ist die Diversifikation im Hinblick nur auf die Renditen ein Free Lunch.
Der Risikoaspekt
Diversifikation soll das Risiko eines Portfolios verringern. Eine Risikoreduktion eines Portfolios kann für Anleger auf zwei Arten erfolgen. Erstens in einem trivialen Sinne durch Mischung von Assets mit unterschiedlichen Risiken, die sich rein ergibt, wenn die Korrelation = 1 ist. Eine Risikominderung dieser Art gibt es allerdings nur dann, wenn das zuerst gewählte Asset das riskantere ist; denn andernfalls erhöht sich das Portfoliorisiko. Und zweitens kann Risiko reduziert werden durch den Korrelationseffekt im Sinne von Markowitz, der sich bei Korrelation < 1 immer ergibt und der unabhängig von der Reihenfolge der Selektion ist. In Baurs 2-Asset-Beispiel (Asset A: Rendite und Volatilität jeweils 10%, Asset B beide 5%) ergibt sich bei unterstellter Gleichgewichtung und einer angenommenen Korrelation von k = 1 ein Portfoliorisiko von 7,5% und eine Portfoliorendite von 7,5%. Bei Annahme einer Korrelation von 0,5 reduziert sich c.p. das Risiko auf 6,6%, während die Rendite unverändert bei 7,5% bleibt. Daher könnte man zwar sagen, dass es sich bei diesem Korrelationseffekt für k<1 gegenüber k=1 um einen Free Lunch handelt. Aber Anleger können, wenn sie in die Assets A und B mit der Korrelation 0,5 investieren, nur in beide Effekte zusammen investieren. Daher wird im 2-Asset-Beispiel von Baur für den informierten Anleger durch Hinzufügung von Asset B zu Asset A (d.h. Diversifikation) das Portfoliorisiko von 10% auf 6,6% reduziert und zugleich die Rendite von auf 10% auf 7,5% Prozent verringert. Und das bedeutet, dass die Risikoreduktion für einen Markowitzanleger mit einer Einbuße an Rendite verbunden und somit kein Free Lunch ist. Für nichtwissende Anleger, die zufällig selektieren, besteht hingegen die Möglichkeit für einen Free Lunch.
Effiziente Linie
Die von Markowitz konstruierte Effiziente Linie der Portfoliotheorie ist eine Kurve mit den besten Risiko-Rendite-Kombinationen. Anleger können ihr Risiko gemäß Präferenz wählen, daraus ergibt sich dann die für sie optimale Portfolio-Rendite-Kombination. Die Kurve hat auch einen Bereich, der als ineffizient bezeichnet wird. In diesem Bereich führt eine Reduktion des Risikos bzw. Diversifikation zu einer steigenden Rendite. Und das wäre ein Free Lunch. Daraus folgert Baur, dass auf ineffizienten Märkten ein Free Lunch durch Diversifikation möglich ist.
Bauer kommt also auf Basis einfacher Modellüberlegungen zu dem Ergebnis, dass für informierte Markowitz-Anleger Diversifiktion kein Free Lunch ist. Dass aber für uninformierte Anleger oder auf ineffizienten Märkten Diversfikation ein Free Lunch sein kann.
Simulation auf empirischer Datenbasis
Baur führt zudem Simulationsanalysen auf Basis der monatlichen Kurse der S&P-500-Aktien im Zeitraum 31.12.1999 bis 31.01.2022 durch, um seine Thesen empirisch zu prüfen. Er unterscheidet drei Informationskonstellationen, zwei haben wir schon angesprochen.
(1) Wissende bzw. Markowitz-Anleger, die zum Zeitpunkt ihrer Anlageentscheidung die zukünftige Renditeverteilung der S&P-500-Papiere (d.h. Erwartungswert/Rendite und Volatilität/ Risiko) bereits kennen.
(2) Unwissende Anleger, die keine Kenntnisse der Verteilungsparameter haben und daher ihre Anlagen zufällig aus dem S&P-500-Universum wählen.
(3) Halbwissende Anleger, die nur die vergangenen Renditen des S&P 500 kennen und auf dieser Basis die zukünftigen Renditen prognostizieren. Sie sind insofern nicht vollständig informiert, als sie aktuelle Fundamentaldaten, die im Prinzip verfügbare wären, nicht nutzen. Zu dieser Gruppe würden technische Anleger gehören.
Die per Simulation pro Anlegertyp durchgeführten Portfolio-Diversifikationen bestehen in der Erhöhung der Zahl der im Portfolio gleichgewichteten Vermögenswerte von 1 auf 5, 10, 20, 50, 100, 200 und 500.
3.1 Wissende Anleger
Für wissende Anleger fällt im Baur-Modell mit der Risikoreduktion per Diversifikation die Portfoliorendite. Auch die Simulation auf empirischer Datenbasis zeigt, dass die Renditen der Portfolios mit zunehmender Aktien-Anzahl im Portfolio sinken. Baur wertet das als Indiz, dass Kosten der Diversifikation entstehen und ein Free Lunch für informierte Markowitz-Anleger nicht möglich ist.
Die Simulationen zeigen zudem, dass zunächst die Sharpe Ratio bis zu einer Größe von 50 Aktien steigt, um dann wieder zu fallen. Baur wertet das als Indiz dafür, dass die optimale Portfoliogröße bei etwa 50 Aktien liegt (mit monatlichem Rebalancing sind es weniger). Zugleich beobachtet Baur, dass Diversifikation nicht so symmetrisch wirkt, wie eine Normalverteilung erwarten lässt, denn das Aufwärtsrisiko (Wahrscheinlichkeit von sehr hohen Kursen) nimmt stärker ab als das Abwärtsrisiko (Wahrscheinlichkeit von sehr tiefen Kursen).
3.2 Unwissende Anleger
Im anderen Extremfall, der Unwissenheit der Anleger, erfolgt die Aktien-Selektion per Zufall. Die Simulationen auf S&P500 Basis zeigen, dass die Durchschnittsrenditen über alle erstellten Portfolios hinweg stabil sind und das Risiko mit zunehmender Aktienanzahl im Portfolio abnimmt. Das deutet Baur als Beleg seiner These, dass nichtwissende Anleger durch Diversifikation das Portfoliorisiko ohne Einbußen der Rendite reduzieren können: Diversifikation ist unter diesen Bedingungen also ein Free Lunch.
3.3 Halbwissende Anleger
Die Renditen in den Portfolios der halbwissenden Anleger gingen mit geringerem Risiko ebenfalls zurück, sie waren aber höher als bei unwissenden Anlegern, jedoch geringer als bei Markowitzanlegern.
Baur schließt daraus, dass Mehrwissen über das Nichtwissen (Zufall) hinaus dazu führt, dass Diversifikation kein Free Lunch ist.
Schlussbemerkungen
Baur findet erstens keinen Beleg, dass die Sentenz „diversification is the only free lunch“ von Markowitz ist, zumal sie dessen Modell widerspricht.
Baur findet zweitens theoretisch und auf Basis einer Simulation anhand realer Daten, dass Diversifikation für informierte Anleger bzw. Markowitz-Anleger kein Free Lunch sei. Diversifikation sei nur für völlig uninformierte Anleger, die per Zufall auswählen, ein Free Lunch oder auf ineffizienten Märkten. Das stehe, so Baur, im Einklang mit Warren Buffetts These, dass „Diversifikation vor Unwissenheit“ schütze (“diversification is protection against ignorance”).
Baur neigt zu der Annahme, umfassendes Wissen mache Diversifikation in der Tendenz überflüssig. Baur glaubt, das könne auch erklären, warum viele Milliardäre – die hohe Kompetenz für die Vermögensverwaltung „einkaufen“ können – relativ konzentriertes Vermögen bzw. wenig diversifizierte Portfolios besitzen.
Die Frage stellt sich allerdings, inwieweit die hochgradig stilisierten, extrem vereinfachten, auf ein ganz bestimmtes Problem und Beweisziel zugeschnittenen Modell-Annahmen von Markowitz sich eignen, um relativ unvermittelt die Ergebnisse einer Simulation mit empirischen Aktienmarkt-Daten zu interpretieren.
Diese Frage stellt sich auch deshalb, weil wir in einem weiteren Artikel in dieser Ausgabe („FOMO: Neues Risiko für Asset-Manager durch De-Diversifizierung?“) gleichfalls eine akademische Studie vorstellen, die eine Aktienmarktsimulation für den Bereich der Institutionellen Investoren durchführt. Für Profis wird dabei zum Problem, dass sie die Spitzen-Renditen nicht identifizieren können, d.h. auch, keine Ordnungsrelation der Größe nach herstellen können. Die Studie thematisiert ein Profi-Problem, das in Baurs Modell vor allem unwissende oder auch halbwissende Anleger haben, Markowitz-Anleger jedoch definitionsgemäß nicht.