Kryptowelt

Kryptoassets: Bewertungsverfahren

Redaktion -

Carl Menger (1840-1921) gilt als Begründer der Österreichischen Schule und der subjektiven Wertlehre, die auf der Grenznutzenbetrachtung fusst. Kann sein Ansatz die Frage beantworten, was Kryptos wirklich wert sind?

 

Im Januar 2009 wurden die ersten Bitcoins geschöpft, die erste Kryptowährung war in Gang gesetzt. 2011 war mit Litecoin die zweite Kryptowährung verfügbar. Nach Angaben von Statista war die Zahl der Kryptowährungen im Jahr 2013 auf 66 angewachsen, Ende 2019 auf 2388, im Februar 2022 auf 10.656. Seither hat sich die „Artenvielfalt“ nicht mehr signifikant vergrößert, im November 2024 zählte Statista 9927 Kryptowährungen, nachdem es im Januar 2024 nur 8210 gewesen sein sollen. Obwohl sich bislang keine der vielen Krypto-„Währungen“ als ein allseits akzeptiertes Zahlungssystem durchgesetzt hat, wurden sie schnell von einer wachsenden, aber immer noch kleinen Gruppe von Anlegern als Assets gehandelt. Starke Preissteigerungen etwa von Bitcoin ab einem bestimmten Zeitpunkt trugen wesentlich dazu bei. Aber extreme Preisschwankungen führten schnell zu der Frage, welcher Wert sich bei Kryptowährungen unter der Preishülle denn nun „wirklich“ versteckt?

Auf diese Frage gibt es grundsätzlich zwei Antworten.

Die erste Antwort heißt, dass sich nichts hinter einer Hülle versteckt, dass der scheinbare Schein schon das Sein selber sei, dass sich also im Preis der Wert bereits offenbart. In diesem Fall lässt man die Suche nach einem „intrinsischen“ Wert auch in Anbetracht der vielen Einwände gegen vorgeschlagene Lösungen als unfruchtbares Unterfangen bleiben und wendet sich gleich den Kursen, ihren Steigerungen, ihren Einbrüchen, ihren Schwankungen zu. Leif Richter und Thomas Ullmann, die wir zu Bitcoin als Geldanlage befragt haben, neigen zu dieser Lösung: Denn der Wert ergebe sich einfach aus Angebot und Nachfrage und mehr sei zum Wert eigentlich nicht zu sagen; alles andere führe zu einer unnötigen Verkomplizierung (siehe Interview).

Die zweite Antwort besteht in der Idee, dass dem Preis einer Kryptowährung ein Wertkern zugrunde liegt, der sich „irgendwie taxieren“ lässt, entweder in Gestalt einer exakten Zahl oder durch Angabe eines mehr oder weniger diffusen Zahlenbereichs. Dieses „irgendwie“ kann mehr qualitativ-hermeneutische Komponenten und intuitive Einsprengsel enthalten oder in einem wohldefinierten quantitativen Bewertungs-Verfahren bestehen. Den intrinsischen Wert etwa von Bitcoin glauben am ehesten noch viele Fundamentalkritiker exakt beziffern zu können, auch oder gerade weil sie kein explizit-zünftiges Bewertungsverfahren verwenden: denn sie bestreiten, dass die Kryptowährung einen (vom Preis häufig abweichenden) inneren Wert hat, oder der "innere" mit dem "äußeren" Wert in Gestalt des Preises jederzeit zusammenfällt. Kurz gesagt: sie setzen den inneren Wert auf null. Da generell der Preis von Geldanlagen von Erwartungen abhängt, sind aus Fundamentalkritiker-Sicht – man könnte hier etwa Roubini als „Zeugen der Anklage“ nennen – Kryptowährungen ein Gemisch aus „falschen“ Theorien über vermeintlich fundamentale Faktoren, aus historisch genährten „naiven“ Preisextrapolationen, aus Imitationsverhalten und aus spekulativen Erwartungserwartungen (Erwartungen über Erwartungen und Erwartungserwartungen der anderen Anleger).

Andere Kritiker mögen sogar einen negativen intrinsischen Wert unterstellen. Von dieser Art scheint ein Mitte Oktober 2024 veröffentlichtes Papier der beiden EZB-Ökonomen Bindseil und Schaaf zu sein. Zwar heben sie hervor, dass Bitcoin wertbestimmende Merkmale etablierter Finanzanlagen, insbesondere Cash Flows wie Mieten, Dividenden oder Zinszahlungen, fehlten. Infolgedessen seien etablierte Methoden zur Wertberechnung auf Bitcoin nicht anwendbar. Da sie aber den (Anleger-)Nutzen von Bitcoin stark bezweifeln und zudem negativ bewertete Umverteilungseffekte monieren, verwenden sie offenkundig ein alternatives Bewertungsverfahren. Und dieses scheint zu dem Ergebnis zu kommen, dass der „wahre Wert“ des Bitcoin negativ ist, d.h. in dem Schaden liegt, den er ihrer Ansicht nach gesellschaftlich anrichtet.

Ein anderer Diskussionsstrang sind unterschiedliche explizite Bewertungsverfahren, die im Laufe der Zeit für Kryptowährungen vorgeschlagen worden sind. Dazu gehören traditionelle Methoden, aber auch für die Welt der etablierten Bewertungsverfahren neue Modelle, die auf spezifischen Eigenschaften von Kryptowährungen bzw. Netzwerken aufbauen. Wir stellen im Folgenden einige Wertbestimmungsmodelle auf der Grundlage zweier CFA-Booklets vor: Dem 2021 erschienenen „Cryptoassets: The Guide to Bitcoin, Blockchain, and Cryptocurrency for Investment Professionals“ von Matt Hougan und David  Lawant. Und dem Ende 2023 veröffentlichen „Valuation of Cryptoassets. A Guide for Investment Professionals“ von Urav Soni und Rhodri Preece.

Bewertung von Kryptoassets

Soni and Preece differenzieren Kryptoassets – teils unter Bezugnahme auf den Global Crypto Classification Standard – in Abhängigkeit von ihren Hauptfunktionen in drei Kategorien: a) Kryptowährungen, die darauf spezialisiert sind, Wert zu übertragen (Beispiele: Bitcoin, Litecoin, Monero oder Zcash); b) Smart Contract Plattformen, die eine bestimmte Art von Programmierung erlauben (Ethereum, Solana, Polygon oder TRON); c) dezentrale Anwendungen, d.h. nichtzentrale Internet-Infrastrukturen, die Zugang zu Produkten und Dienstleistungen ermöglichen (Uniswap, Aaave oder Convex Finance).

Für jede dieser Unterkategorien wurden eigene Bewertungsmodelle vorgeschlagen, die sich nur zum Teil überschneiden oder miteinander ähnlich sind.

Bewertungen von Bitcoin

Hougan und Lawant stellen fünf aktuell diskutierte Vorschläge einer Wertbestimmung von Bitcoin vor, die einfache formale Zusammenhänge nutzen: ein Marktpotentialmodell; eine Quantitätsgleichung; ein Netzwerknutzenansatz; eine Produktionspreisberechnung; eine Knappheitsformel.

Marktpotential

Die Basis dieses Bewertungsansatzes ist das Marktpotential, das eine Kryptowährung ausschöpfen kann. Aber welcher Markt soll es sein? Die Antwort zielt in erster Linie auf die Wertaufbewahrungsfunktion von Bitcoin, und zwar eine bedingte.

Denn die gefragte Funktion ist die vermutete Eignung von Bitcoin, ein „sicherer Hafen“ in besonders stürmischen Zeiten zu sein. Hougan und Lawant legen ihren Beispielberechnungen des Bitcoins-Werts den Goldmarkt als Potential zugrunde – generell wäre dies aber auf weitere Assets mit Sicherer-Hafen-Qualität auszuweiten.

Quantitätsgleichung

Eine zweite Wertberechnung orientiert sich an der Zahlungsfunktion von Bitcoin. Der Wert eines Bitcoins wird mithilfe der klassischen Quantitätstheorie des Gelds berechnet, die auf das Segment der jeweiligen Kryptowährung angewandt wird.

Der Preis pro Bitcoin wird dementsprechend aus Geldangebot, Umlaufgeschwindigkeit, Preisniveaus der Güter und Handelsvolumen im Kryptosegment abgeleitet.

Netzwerknutzen

Eine dritte Variante interessiert sich für den Netzwerkcharakter von Kryptowährungen, speziell für den Nutzen eines Netzwerkes. Das Bitcoinsystem ist ein Netzwerk von Rechnern (Knoten), die miteinander verbunden sind (Kanten). Das ermöglicht es, Metcalfe‘s law anzuwenden. Dieses besagt, dass der Nutzen bzw. Wert eines Netzwerkes proportional zur Anzahl der Kanten (Verbindungen) oder zum Quadrat der Knoten (Bitcoin-Teilnehmer/Rechner) ist. Daraus lässt sich dann der Wert eines Bitcoins berechnen.

Produktionskosten

Bei diesem Ansatz wird der Begriff „Mining“ geradezu wörtlich genommen und Bitcoin wie ein Rohstoff behandelt, der zunächst gefördert werden muss. Der Wert eines Bitcoins ergibt sich dann aus den Grenzkosten des Minings im Verhältnis zum erwarteten Ertrag dieser Produktion; in diese Kosten geht insbesondere der Energieverbrauch bei der Schöpfung von Bitcoins ein.

Knappheit im Stock-to-flow-Modell

Hier ist die wertbestimmende Größe, nach der gesucht wird, die Knappheit des Bitcoin-Angebots. Die wird wiederum erfasst mithilfe des Stock-to-flow-Modells. Dabei wird eine Bestandsgröße (Bestand der aktuell zirkulierenden Bitcoins) ins Verhältnis gesetzt zu einer Stromgröße (jährliche Produktion von Bitcoins). Je höher der daraus errechnete Quotient ist, umso wertvoller ist Bitcoin.

Beurteilung der Bitcoin-Bewertungs-Verfahren

Hougan und Lawant sind von keiner dieser in letzter Zeit vorgeschlagenen Methoden der Wertberechnung überzeugt. Um einige ihrer Einwände anzuführen: Der Marktpotentialansatz beruhe auf problematischen Voraussetzungen und führe zu Identifikationsproblemen. Die Quantitätsgleichung habe bereits Probleme mit der Bestimmung der Geldumlaufgeschwindigkeit von Bitcoin. Der Netzwerkansatz kranke an einer inadäquaten Erfassung der Verteilungsstrukturen im Bitcoin-Netzwerk. Das Produktionskostenargument sei logisch zirkulär, weil der zu erklärende Bitcoinpreis beim Mining bereits vorausgesetzt werden müsse. Das Stock-to-Flow-Modell kranke an einer Verwischung von Kausalrelationen mit Korrelationen.

Insgesamt kommen Hougan und Lawant zu dem Schluss, dass keine dieser Bewertungsmethoden so substantiiert ist wie die Verfahren, die für klassische Anlagen mit Cash Flow entwickelt worden sind. Sie verorten Bitcoin irgendwo zwischen Rohstoff und Währung. Während Bewertungen von Rohstoffen schwierig seien, seien sie für Währungen fast unmöglich, diese könnten nur „sicher“ bepreist werden, aber nicht durchgehend vernünftig bewertet.

Zwar schließen Hougan und Lawant eine wirklich tragfähige Bewertung nicht aus, erwarten diese jedoch erst von elaborierteren Bewertungsmethoden, die derzeit noch Zukunftsmusik sind.

Wie sieht es bei den anderen Kategorien von Kryptoassets aus?

Bewertungen von Small Contracts

Bei Smart Contracts handelt sich um "wenn...dann..."- Programme, die in Blockchain-Code verfasst sind. Sie werden massenweise von einem Netz von Computern ausgeführt, wenn bestimmte, vorher durch die Teilnehmer definierte Bedingungen erfüllt sind. Das kann, wie bei Bitcoin, die Freigabe von Geldern sein, das kann aber auch die Zulassung eines Fahrzeugs oder das Ausstellen eines Tickets sein.

Für Kryptos mit Smart-Contract-Funktionalität sind Soni und Preece zufolge insbesondere zwei Bewertungsmodelle vorgeschlagen worden: Erstens die Interpretation der Blockchain als Cash-Flow-Asset, zweitens die Bewertung als Netzwerk.

Im ersten Fall wird die Blockchain als ein Vermögensgegenstand, der einen Cash Flow generiert, verstanden. Der Zahlungsstrom besteht in Transaktionsgebühren. Einkommen wird bei dieser Betrachtung durch Verkauf von Block Space, der für eine Transaktion benötigt wird, generiert. Der intrinsische Wert wird durch den abgezinsten Zahlungsstrom bzw. den Discounted Cash Flow (DCF) bestimmt.

Die Bewertung als Netzwerk kann unterschiedlich erfolgen. So wie oben bei der Bitcoin-Bewertung über Metcalfe‘s law. Dabei handelt es sich um eine abstrakte Beschreibung eines Netzwerkes, die auf alle anderen Netzwerke ebenfalls angewandt werden kann und deshalb breite Bewertungs-Vergleiche erlaubt.

Es gibt aber auch Netzwerkabbildungen, die über eine Reihe von spezifischen Kenngrößen von Krypto-Plattformen erfolgen. Mit diesen Modellen können dann Smart-Contract-Plattformen besser miteinander verglichen werden.

Dezentralisierte Anwendungen: DeFi

Bei den dezentralisierten Anwendungen beschränken sich Soni und Preece auf einen Teilbereich, das Dezentrale Finanzwesen, kurz DeFi.

Die Bewertung von DeFi-Token gilt aufgrund der noch frühen Entwicklungsphase dieser Anwendungen als besondere Herausforderung. Da DeFi Ähnlichkeiten mit traditionellen finanziellen Geschäftsmodellen hat, erscheinen gängige Bewertungsmodelle als geeignet. Allerdings müssen die Kenngrößen auf die spezifischen Funktionalitäten dieser Kryptoassets angepasst sein. DeFi-Apps können dann auch bewertungsmäßig mit ihren traditionellen Entsprechungen verglichen werden.

Die meisten DeFi-Anwendungen generieren ihren Umsatz mit Gebühren für Dienstleistungen.

Soni und Preece stellen Bewertungsarten für den relativen und für den „absoluten“ bzw. intrinsischen Wert vor. Die relative Bewertung eignet sich für den Vergleich von DeFi-Protokollen untereinander oder noch kleinteiliger für der Vergleich der Protokolle einer Kategorie. Dabei werden unterschiedliche Kenngrößen angewandt.

Der intrinsische Wert wird auch hier über den abdiskontierten Zahlungsstrom bzw. das DCF-Modell errechnet.     

Beurteilung der Bewertung von Kryptoassets

Soni und Preece sind der Ansicht, dass aktuelle Bewertungsansätze diverse Einschränkungen aufweisen, so dass sie davon abraten, Kryptoassets allein anhand eines Modells oder einer einzelnen Kennzahl zu bewerten: stattdessen sollte man das verfügbare Spektrum nutzen. 

Noch seien die Zeitreihen bei Krypotassets zu kurz, um einen verlässlichen Modellrahmen für Bewertungsverfahren zu konstruieren.

Auch die Anwendung "intrinsischer" Bewertungsanalysen, die aus dem traditionellen Finanzwesen (wie dem DCF-Modell) übernommen und auf dezentrale Anwendungen oder Smart-Contract-Plattformen angepasst werden, würden durch Mangel an historischen Daten, die Abhängigkeit von Modell-Annahmen wie auch durch die schnelle Entwicklung von Kryptoassets erschwert. Das bedeutet anders formuliert, dass sich das Evolutionstempo von geeigneten Bewertungsmodellen an der hohen Evolutionsgeschwindigkeit in der Kryptowelt ausrichten muss. Soni und Preece begrüßen daher Widerspruch und Kritik ausdrücklich, um schneller zu besseren Bewertungsansätzen zu kommen.

Trotz aller Einschränkungen böten die Bewertungs-Modelle Einblicke in die Funktionalitäten der jeweiligen Kryptoasset-Klassen und seien als Elemente eines gründlichen Research- und Analyseprozesses bei Anlageentscheidungen unverzichtbar.

Zusammenfassend kann man sagen: Es wurden bislang verschiedene Ansätze der Wertbestimmung von Bitcoin und anderen Kryptowährungen vorgeschlagen. Kein Bewertungsverfahren scheint für sich überzeugen zu können. Auch der kombinierte Einsatz führt noch nicht wirklich zum „wahren“ Wert, er ist allenfalls auf dem Weg zum Ziel, das sich aber vielfach selber noch auf dem Weg ins Irgendwo befindet. So bleibt dann für alle, die dem intrinsischen Wert von Kryptoassets nachspüren, eine Art von Liebe zum Wert (axios) erhalten, so dass man die Entwicklung von Krypto-Bewertungsverfahren beim gegenwärtigen State of the Art in Anlehnung an den Fachbegriff für die Liebe zur Weisheit als Philoaxie bezeichnen könnte.

Link zu: „Cryptoassets: The Guide to Bitcoin, blockchain, and cryptocurrency for Investment Professionals“

Link zu: “Valuation of Cryptoassets: A Guide for Investment Professionals”

 

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