Preisauftrieb – Reisender oder Dauergast?
Unterschiedliche Vorstellungen über die zukünftige Inflation
Die Inflationsrate kletterte im November (gegenüber dem Vorjahresmonat) in Deutschland auf 5,2 Prozent. Dennoch hielt sich der Aufschrei in Grenzen. Dabei galt Deutschland international lange als Land, in dem Inflationsfurcht auf hohem Niveau kultiviert wird, egal ob gerade Deflation oder Inflation herrscht. Vielleicht ist das der Grund, weshalb man die jüngsten Inflationsanstiege beinahe gleichmütig registierte. Vielleicht stellt auch nur „Corona“ alles andere in den Schatten. Möglich aber auch, dass sich die Inflationskultur mit den Jahren der Euroexistenz, der Krisen, der Niedriginflationsepoche und durch die nachwachsenden Generationen verändert hat. Jedenfalls kam der Anschub der 2021 weltweit geführten Inflationsdiskussion nicht aus Deutschland, sondern aus den nicht allzu sehr inflationssensiblen USA. Allerdings ist dies keine größere Überraschung. Denn erstens werden die meisten intellektuellen Trends, praktisch alle im Zusammenhang mit Wirtschaft und Finanzmärkten, in den USA gesetzt. Zweitens ist die Inflation dort schon früh sehr kräftig angestiegen. Im Mai kletterte die Quote auf 5 Prozent und lag seither immer darüber, im Herbst überstieg sie 6 Prozent und lag im November bei 6,8 Prozent. Bereits das massive Konjunkturpaket der Biden-Administration hatte führende Makroökonomen im Frühjahr dieses Jahres auf den Plan gerufen, die vor längerfristig hoher Inflation warnten.
Stand und Prognosen
Im Laufe des Jahres 2021 sind die monatlichen Inflationsraten (im Vergleich zum Monat im Vorjahr) kräftig angestiegen. So betrug in Deutschland die Inflationsrate (gemäß Verbraucherindex) im Januar 2021 noch 1 Prozent, für November schätzte sie das Statistische Bundesamt vorläufig auf 5,2 Prozent. Allerdings ging der Verbraucherindex gegenüber dem Oktober 2021 um 0,2 Prozentpunkte zurück.
Wie sehen die aktuellen Inflationsraten für das Jahr 2021 und in einzelnen Ländern oder Ländergruppen aus? Die OECD rechnet für das gesamte Jahr 2021 mit einem Anstieg des harmonisierten Verbraucherindex im Bereich der OECD-Mitgliedschaft von 3,5 Prozent; im Euroraum soll die Steigerung 2,4 Prozent betragen, jedoch mit erheblicher Streuung. Während die OECD für Deutschland 3,1 Prozent schätzt, erwartet sie für Frankreich 2,1 Prozent und für Italien 1,8 Prozent. Wie sich die Zeiten ändern. Damit gehört Deutschland unter den fortgeschrittenen Ländern zur Gruppe mit dem höchsten Inflationsanstieg. Die Teuerung in den USA wird noch höher sein, die OECD schätzt sie auf 3,9 Prozent, während Japan mit -0,2 Prozent seinem Ruf als uninflationierbar treu geblieben ist. Die Anstiege der Kerninflation sind, wie Tabelle 2 zeigt, etwas geringer.
Wie sieht es mit dem Ausblick für die nächsten beiden Jahre aus? Laut Prognosen der OECD vom Dezember 2021 sollen die Verbraucherpreise über das gesamte Jahr 2022 im OECD-Bereich um 4,2 Prozent ansteigen – das wäre eine stärkere Teuerung als 2021. Für die USA erwartet die OECD 4,4 (2022) und 2,5 Prozent (2023). Im Euroraum sollen es 2,7 (2022) und 1,8 (2023) Prozent sein. Für Deutschland werden 2,8 (2022) bzw. 2,2 (2023) Prozent erwartet, für Frankreich 2,3 (2022) und 1,4 (2023) Prozent und für Italien 2,2 (2022) und 1,6 (2023) Prozent. Die Rate in Deutschland wird dieser Prognose zufolge also in den beiden kommenden Jahren nicht nur über der Euroraumrate, sondern auch über der Zielrate der EZB von 2 Prozent liegen, während in Frankreich und Italien die Zielrate 2022 nur knapp übertroffen werden soll, und 2023 deutlich unterschritten wird.
Die gegenwärtig vorliegenden letzten Prognosen anderer Institutionen, die regelmäßig Inflationsdaten schätzen, sind nicht vom Dezember, sondern vom Herbst oder Spätsommer. Der Sachverständigenrat (SVR) etwa erwartete im Herbst für 2022 im Euroraum eine Inflation von 2,1%; die EZB ging im September nur von 1,7 (2022) und 1,5 (2023) Prozent aus.
Die Prognose-Differenzen können unterschiedliche Gründe haben: andere Daten, Methoden oder Modelle. Aber insbesondere fällt auf, dass die Prognostiker ihre Inflationsausblicke im Laufe des Jahres kräftig nach oben korrigierten: Die Profi-Prognostiker haben gemäß SPF (Survey of professional Forecasters) für das Jahr 2021 nach Angaben des SVR im ersten Quartal noch eine Inflation von 0,9 Prozent erwartet; im vierten Quartal war diese Schätzung auf 2,3 Prozent angestiegen. Ähnliches kann man auch bei OECD, EZB und IWF beobachten (siehe Tabelle 3). Der SVR bringt dies mit erheblichen Unsicherheiten der derzeitigen Inflationsprognosen in Verbindung. Aber hier kommt nicht erhöhte Unsicherheit zum Ausdruck – die sollte sich in starker Streuung der Schätzwerte in einem Zeitpunkt zeigen –, sondern eine systematische Unterschätzung der inflationären Dynamik zu Beginn des Jahres. Offenbar waren die Erwartungen der wichtigsten Institutionen adaptiv: die unerwartet hohen realen Inflationsraten erzwangen Anpassungen der kurz- bis mittelfristigen Schätzungen. Das ist auch der Grund, weshalb SVR, OECD oder IWF bei ihren Schätzungen derzeit so sehr die „Upside“-Unsicherheit (höher und / oder länger erhöht) betonen.
Trotz diverser Prognose-Unterschiede, adaptiver Korrekturen und erhöhter Upside-Unsicherheiten besteht in den Prognoseabeteilungen der genannten Institutionen der Konsens, dass die Jahresinflation 2022 – bei Verzögerung eventuell auch erst 2023 – den Höhepunkt haben wird und sich dann wieder in der Nähe des Vorkrisenniveaus einpendeln wird.
Temporäre Ursachen – Temporäre Wirkungen?
Der Grund für diese Einschätzung ist, dass man derzeit die Ursachen der erhöhten Inflationsdynamik vor allem in temporären Faktoren sieht. Und temporäre Faktoren, so die Annahme, bewirken im gegenwärtigen Umfeld nur temporär erhöhte Inflation.
Um welche Faktoren handelt es sich hier? Genannt werden neben Basiseffekten (etwa im Zusammenhang mit (Mehrwert-) Steuersenkungen oder gefallenen Energiepreisen 2020) sowie weiteren Sondereffekten unter anderem: Liefer- und Produktionsengpässe; massiv erhöhte Seefrachtkosten; Energiepreisanstiege; kumulierte Ersparnisse und aufgeschobener Konsum, der nachgeholt wird; massive politische Maßnahmen zur Stimulation der Wirtschaft. Konzediert wird, dass diese Inflationstreiber länger aktiv sein könnten und dass manche vielleicht erst verzögert wirksam werden – was auch von der pandemischen Lage abhängt. Alles in Allem würde dies aber am generellen Bild, dass die gegenwärtige Inflationsdynamik ein temporäres Phänomen ist, nichts ändern.
Die Forschungsabteilungen etwa von IWF oder EZB stützten diese Einschätzung mit Modellberechnungen ab. Im IWF-Ausblick vom Herbst wird mit Hilfe eines neokeynesianischen „Phillipskurven“-Modells die Inflationsdynamik untersucht. Inflationsfaktoren sind die Produktionslücke, fallende Arbeitslosigkeit und der Anstieg der längerfristigen Inflationserwartungen. Die Modellberechnungen ergeben im Endeffekt, dass der Inflationsdruck in den nächsten Jahren abnimmt. Die IWF-Ökonomen spielten zudem ein Extremrisiko-Szenario durch, dessen Eintrittswahrscheinlichkeit sie mit 0,01 Prozent veranschlagen. Sollte es eintreten, käme es zu einem starken Anstieg der Rohstoffpreise und zu sektoraler Inflationsstreuung. Die Inflation würde in den fortgeschrittenen Ökonomien auf bis zu 4,4 Prozent, in Schwellenländern auf bis zu 8,4 Prozent ansteigen. Aber auch in diesem Szenario geht die Inflation im Trend 2024 zurück und die längerfristigen Inflationserwartungen bleiben in den fortgeschrittenen Ökonomien mit hoher Wahrscheinlichkeit stabil bei 2 Prozent verankert. Demnach besteht im Extremszenario das Risiko eines kräftigeren Inflationsanstiegs mit verzögerter Rückkehr zur Trendinflation. In der langen Frist ändert sich aber am temporären Charakter stark überhöhter Inflation nichts.
Die EZB-Ökonomen Brognone, Dieppe und Ricci stellten kürzlich auf der Ökonomen-Plattform CEPR / VOX („Quantifying the risk of persistently higher US inflation“) die Ergebnisse einer Simulation mit dem ECB-Global model vor. Zweck der Übung war, das „Upside-Risk“ des Biden-Konjunktur-Pakets für die US-Ökonomie in den Jahren 2022 und 2023 zu beziffern. Im Basisszenario führt der fiskalische Stimulus nur zu einem moderaten Inflationsanstieg von 0,3 Prozentpunkten; 2022 wird dieser seinen Höhepunkt erreichen und 2023 leicht abflauen. In Risikoszenarien spielen die EZB-Ökonomen drei vom Basis-Szenario abweichende Fälle durch: a) der Fiskal-Multiplikator ist stärker als im Basisszenario angenommen; b) rückgehende Arbeitslosigkeit treibt die Inflation stärker (steilere Phillipskurve); c) die längerfristige Inflationserwartung verändert sich (Entankerung). Den stärksten Effekt hätte eine Entankerung der Inflationserwartungen; dadurch könnte die Inflation 1 Prozentpunkt höher als im Basisszenario erwartet ausfallen. Sollten alle Risikoszenarien simultan eintreten, könnte der gesamte Biden-Stimulus die Inflation im Jahr 2023 um 2,3 Prozentpunkte zusätzlich erhöhen. In diesem Fall aber, so die EZB-Ökonomen, würde die Fed ihre Geldpolitik eben früher straffen, um dem Inflationsdruck entgegenzuwirken.
Brakeman of last resort
Auch die Kollegin der drei EZB-Forscher Isabel Schnabel setzt auf die Bremserin der letzten Instanz, die Zentralbank. Im September hielt sie einen Vortrag vor deutschen Unternehmern mit dem Titel „Neue Narrative über die Geldpolitik: das Gespenst der Inflation“, der zur Beruhigung des Publikums gedacht war: “Mir war es heute, in einem Umfeld steigender Inflationsraten, insbesondere in Deutschland, ein Anliegen, den Menschen die Sorge zu nehmen, dass die Inflation dauerhaft zu hoch bleiben wird oder sogar unkontrolliert in die Höhe schießt. Aller Voraussicht nach wird sich die Inflation im kommenden Jahr wieder spürbar abschwächen. … Die EZB wird auch in Zukunft die Preisstabilität im Euroraum mit Entschlossenheit wahren. Wir werden anhaltenden Abweichungen von unserem Inflationsziel nach oben und nach unten mit Vehemenz entgegenwirken. Wir werden den Preisen von selbstgenutztem Wohneigentum stärker Rechnung tragen. Und wir werden mit Umsicht und Besonnenheit im aktuellen Umfeld handeln, um nach vielen Jahren endlich den Weg aus dem Niedrigzinsumfeld zu ebnen.“
Nicht alle Ökonomen teilen diese Zuversicht. Manch anderer erzählt das „neue Narrativ“ vom Inflationsgespenst, das nur eines sicher nicht ist: neu. Denn meistens knüpfen sie an vergangenen „Inflationsepochen“ an.
Das von Schnabel vorgetragene EZB-„Narrativ“, das durch Modellstudien gestützt wird, geht, wie bereits gesagt, davon aus, dass die derzeitigen Inflationsursachen nur vorübergehender Natur sind. Anders gesagt: Temporäre Ursachen haben temporäre Wirkungen (auf die Inflation). Das ist aber kombinatorisch betrachtet nur eine von vier Möglichkeiten. Und ökonomisch betrachtet gibt es nicht wenige Experten, die der Ansicht sind, dass temporäre Ursachen in der derzeitigen Situation auch langfristige Inflationswirkungen haben können. Bereits im Frühjahr warnten einflussreiche Ökonomen wie Summers oder Blanchard davor, dass der Biden-Stimulus die Inflation auch langfristige stark erhöhen könnte – was der eben angeführten EZB-Modell-Simulation zufolge aber eher unwahrscheinlich ist. Auch Hans-Werner Sinn äußerte in Interviews unter anderem mit dem Handelsblatt die Meinung, dass die derzeit als „temporär“ attributierten Inflationstreiber Auslöser für ein neues Inflationsregime seien, in dem es immer wieder zu kräftigen Inflationsausbrüchen kommen werde – ähnlich wie wir das zwischenzeitlich von den Pandemiewellen her kennen. Demzufolge würden temporäre Inflationsfaktoren insbesondere über diverse Verstärkereffekt ein dauerhaft instabiles Inflationsregime induzieren.
Die dritte Möglichkeit besteht darin, dass dauerhafte Faktoren eine dauerhafte Inflationsdynamik erzeugen. Diese Konstellation spielt in der Diskussion um die zukünftige Inflationsdynamik gleichfalls eine Rolle. Genannt werden u.a. Preissteigerungen, die sich aus der projektierten Transformation des Energieregimes ergeben, der langfristige demographische Wandel oder der anhaltende Fachkräftemangel in Deutschland.
Bleibt der Vollständigkeit halber noch die vierte kombinatorische Möglichkeit zu erwähnen: dauerhafte Ursachen haben nur temporäre Wirkungen; das wäre aber inflationspolitisch wenig problematisch.
Der Konsens-Annahme der gegenwärtigen Mainstreams „temporäre Ursachen / temporär erhöhter Inflationsdruck“ wird offenbar von Verfechtern der Konstellation „temporäre Ursachen / dauerhaft erhöhter Inflationsdruck“ am stärksten widersprochen; für sie spielen insbesondere Verstärkereffekte eine zentrale Rolle. In diesem Zusammenhang werden dann regelmäßig zwei Inflationsfaktoren genannt: entankerte bzw. adaptive langfristige Inflationserwartungen und Lohn-Preis-Spiralen.
Langfristige Inflationserwartungen und Lohn-Preis-Spiralen
Sind die langfristigen Inflationserwartungen (über 5 und mehr Jahre) auch bei aktuell steigender Inflation stabil, dann sind sie von Letzterer unabhängig; man spricht dann häufig von Verankerung. Der Grad dieser Verankerung ist insbesondere von verschiedenen institutionellen Faktoren abhängig, wie etwa der Verfasstheit und der Glaubwürdigkeit der Zentralbank.
Kommt es in einem Umfeld steigender Inflationsraten zu einer Entankerung, dann wirken die aktuellen Inflationsraten – ähnlich wie bei den kürzerfristigen Inflationserwartungen – auf die langfristigen Inflationserwartungen ein. Weil sich hieraus gegenseitige Verstärkereffekte ergeben, kann eine Entankerung eine besonders kräftige Inflationsdynamik hervorrufen – in der oben angesprochenen EZB-Simulation der US-Inflation ist sie der stärkste Treiber. Wie stark sind nun die langfristigen Inflationserwartungen tatsächlich verankert? Dazu gibt es verschiedene Aussagen und auch empirische Untersuchungen.
Der IWF geht in seinem Herbstausblick davon aus, dass die Verankerung der Inflationserwartungen in entwickelten Volkswirtschaften in den vergangenen 2 Jahrzehnten relativ stabil geblieben ist, selbst in der Covid-Krise. Das sei auch den Zentralbanken zuzuschreiben. Die langfristige Inflationserwartung des IWF ist offenbar gleichfalls relativ stabil in der Nähe der Zentralbankziele: im Ausblick vom Herbst wir der GDP-Deflator für das Jahr 2026 in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften auf 1,8 Prozent geschätzt (USA 2,1%; Euroraum 1,8%). Laut Sachverständigenrat sind die Erwartungen in Bezug auf die Inflation in 5 Jahren unter den Berufsprognostikern gemäß SPF in diesem Jahr nur leicht von 1,7 auf 1,9 angestiegen – im Gegensatz zu ihren kürzerfristigen Erwartungen, die sich im Jahresverlauf deutlich veränderten. Langfristige Erwartungen lassen sich auch aus Inflationsswaps ablesen. Dem SVR zufolge sind diese Erwartungen bezüglich der Euroraum-Inflation in 5 oder 10 Jahren seit Frühjahr 2020 um rund 0,8% angestiegen (von 1,4 auf über 2,2). Der SVR weist allerdings darauf hin, dass bei diesem Indikator die hohe Volatilität das Problem sei.
Diesen Studien und Prognosen zufolge scheinen in den entwickelten Ländern derzeit also die Inflationserwartungen im Wesentlichen relativ stabil verankert zu sein und irgendwo um oder sogar unter 2 Prozent zu liegen. Das spricht gegen die These einer Entankerung. Und es spricht für einen intakten Glaube an die Fähigkeit der Notenbanken, einem starken Überschreiten des 2-Prozent-Ziels erfolgreich entgegentreten zu können.
Lohn-Preis-Spiralen standen in den 60er und 70er Jahren im Zentrum von Inflationstheorien. Nicht selten wird derzeit diese Ära bemüht, um anzudeuten, dass Ähnliches auch aktuell möglich sei. Allerdings gehen viele Ökonomen davon aus, dass sich die inflationstreibende Kraft von Lohn-Preis-Rückkopplungen in den letzten Jahrzehnten deutlich abgeschwächt hat. Als Gründe werden vielfältige strukturelle Veränderungen der Arbeitsmärkte und der Gütermärkte genannt. Ob der Lohn-Preis-Zusammenhang in der derzeitigen Lage wieder eine größere inflationäre Kraft zu entfalten vermag, zumal wenn man sich am genannten historischen Vorbild orientiert, erscheint deshalb zumindest fraglich.
Ohnmächtige Zentralbanken?
Was aber, wenn es doch zu einer inflationstreibenden Entankerung der langfristigen Inflationserwartungen kommt oder zu einer heftiger als erwarteten Lohn-Preis-Spirale? Im oben skizzierten EZB-Szenario oder in der zitierten Verlautbarung von Isabel Schnabel evoziert massiv erhöhte Inflation eine Gegenreaktion der Zentralbank. Schon der Glaube an diese Möglichkeit ist im Übrigen bereits Stabilisator der Erwartungsbildung und somit auch der Inflation. Was aber, wenn sich dieser Glaube als Irrtum herausstellt? Denn es könnte sein, dass der Bremsakt der Zentralbank mehr wirtschaftlichen Schaden anrichtet als der Verzicht darauf bei gleichzeitiger Inkaufnahme höherer Inflation. Sinn etwa argumentiert, dass eine Zinserhöhung der EZB die südeuropäischen Staaten massiv unter Druck setzen würde, was letztlich zu einer Finanzkrise führen könne. In einem Interview mit dem Handelsblatt sagte er kurz und prägnant: „Ich würde sagen: Das QE hat die Inflationsbremse zerstört.“ Um im Bild zu bleiben, aber mit anderen Worten: der Bremszug, an dem Isabel Schnabel vehement ziehen möchte, ist Sinn zufolge schon längst gerissen.
Die beiden Finanzökonomen Charles Goodhart und Manoj Pradhan beschreiben in einem jüngst veröffentlichten CEPR / Vox-Beitrag („What may happen when central banks wake up to more persistent inflation?“) einen vom Prinzip her ähnlichen Mechanismus. Auch sie gehen von einer Entankerung der Inflationserwartungen aus und unterstellen Lohn-Preis-Spiralen. Auch sie argumentieren, dass eine schnelle, stark kontraktive Zentralbankreaktion einer Vollbremsung gleichkäme, die zum Kollaps der Assetpreise auf breiter Front und einer Finanz- und Wirtschaftskrise führen würde. Im Vergleich dazu sei eine Inflation etwa von 4 bis 5 Prozent das geringere wirtschaftliche Übel. Goodhart und Pradhan empfehlen jedenfalls den Zentralbanken, einen Plan B für diesen Fall auszuhecken. So habe es die Bank of England gemacht.
Schluss
Im Wesentlichen kann man sehr holzschnittartig und zugespitzt zwei Fraktionen in der gegenwärtigen Diskussion um die zukünftige Inflation unterscheiden.
Die vorherrschende „Mainstream“-Fraktion, der Organisationen mit politischem Auftrag wie IWF, OECD oder EZB angehören. Die sagt: die Inflationsraten sind kurz- bis mittelfristig erhöht; langfristig werden sie aber auf Vor-Corona-Niveau oder Bereiche rund um das Zentralbankziel zurückgehen. Das Risiko einer Verwandlung von temporären Inflationsursachen in dauerhaft instabiles oder deutlich zu hohes Inflationsgeschehen wird als gering erachtet. Dementsprechend wird die Wahrscheinlichkeit, dass kräftige positive Rückkopplungen – im Zusammenhang mit entankerten langfristigen Inflationserwartungen oder Lohn-Preis-Spiralen – dauerhaft zu einer Inflationsdynamik führen, als gering erachtet. Und sollte sich dies dennoch abzeichnen, dann würde die Zentralbank in jedem Fall Bremsmaßnahmen ergreifen können. Dass dies gelingt, scheint kaum in Frage gestellt. Daraus folgt, dass die gegenwärtige Inflationsepisode temporär sein wird. Im schlimmsten Fall kann sie etwas stärker oder länger ausfallen, als in Basisszenarien erwartet. Maßgeblich zu diesen Einschätzungen tragen entsprechende Modelle und empirische Untersuchungen bei.
Die andere, (heute) eher heterodoxe Fraktion glaubt, dass die Verwandlung temporärer Inflationsursachen in ein dauerhaftes Hochinflationsregime viel wahrscheinlicher ist, als es sich der „Mainstream“ vorstellt. Verstärkereffekte wie entankerte Inflationserwartungen und Lohn-Preis-Spiralen, die diese Umwandlung vorantreiben, werden als sehr viel wahrscheinlicher erachtet. Insbesondere aber wird bezweifelt, dass die Zentralbanken ihrer Funktion als „Bremser der letzten Instanz“ gerecht werden. Das entscheidende Argument lautet, dass eine geldpolitische Bremsung wirtschaftlich weit schädlicher ist als die Akzeptanz einer deutlich erhöhten, aber im günstigsten Fall sogar einigermaßen berechenbaren Inflation. Im Gegensatz zu den Mainstream-Prognosen scheinen Vertreter dieser Fraktion sehr viel freihändiger aus der Erfahrung und dem eigenen Wissensschatz heraus ohne Zuhilfenahme von Maschinen zu argumentieren. Müssen diese Ergebnisse deshalb schlechter sein, als die in Rechenfabriken mit hohem Dateninput produzierten? Wenn man die Ökonomie-Abteilungen von OECD, IWF oder Zentralbanken so bezeichnen möchte, haben die Rechenfabriken immerhin die Inflationsentwicklung 2021 massiv unterschätzt. So kann man Vertrauen in Modellaussagen auch erschüttern und das in den Bauch vielleicht sogar stärken. Daraus aber nun wiederum zwingend ein Verdikt gegen die gängigen Prognose-Maschinen und ihre Bedingungsmannschaften abzuleiten, wäre auch nicht richtig. Man sollte schon genauer schauen, woran es hapert, wie weit solche Modelle tragen und wo ihre Grenzen sind.
Letztlich führt eben mal wieder kein Weg an der einfachen Wahrheit vorbei: Die Zukunft ist offen und zeigt sich oft anders als erwartet.
Tabelle 1: Erwarteter Anstieg der Verbraucherpreise in Prozent (OECD)
2020 | 2021 | 2022 | 2023 | |
---|---|---|---|---|
OECD-Länder | 1,5 | 3,5 | 4,2 | 3 |
Euro-Raum | 0,3 | 2,4 | 2,7 | 1,8 |
Deutschland | 0,4 | 3,1 | 2,8 | 2,2 |
Frankreich | 0,5 | 2,1 | 2,3 | 1,4 |
USA | 1,2 | 3,9 | 4,4 | 2,5 |
Japan | 0 | -0,2 | 0,8 | 0,8 |
China | 2,5 | 0,8 | 1,7 | 2,4 |
Tabelle 2: Erwarteter Anstieg der Kerninflation in Prozent (OECD)
2020 | 2021 | 2022 | 2023 | |
---|---|---|---|---|
Euro-Raum | 0,7 | 1,3 | 1,8 | 1,8 |
Deutschland | 0,7 | 2,1 | 2,4 | 2,2 |
Frankreich | 0,6 | 1,3 | 1,6 | 1,4 |
USA | 1,4 | 3,3 | 3,9 | 2,5 |
Japan | 0,1 | -0,5 | -0,5 | 0,8 |
Tabelle 3: Wandel der Prognosen in Abhängigkeit vom Datum - Inflation im Euroraum in Prozent
2021 | 2022 | 2023 | |
---|---|---|---|
OECD, Dezember 2020 | 0,7 | 1 | |
OECD, Dezember 2021 | 2,4 | 2,7 | 1,8 |
ECB / Eurosystem, Dezember 2020 | 1 | 1,1 | 1,4 |
ECB / Eurosystem, Dezember 2021 | 2,2 | 1,7 | 1,5 |
IWF, Januar 2021 | 0,9 | 1,1 | |
IWF, Oktober 2021 | 2,2 | 1,7 | |
Survey of Professional Forecasters (SPF), Januar 2021 | 0,9 | 1,3 | 1,5 |
Survey of Professional Forecasters (SPF), September 2021 | 2,3 | 1,9 | 1,7 |