VV-Kolumne

„Die Weltkonjunktur ist überraschend robust“

Gastautor -

von Adrian Roestel, Leiter Portfoliomanagement bei Huber, Reuss & Kollegen

Die Zahl der Neuaufträge ging nur moderat zurück. Vor allem zyklisch geprägte Geschäftsmodelle und Aktienmärkte profitierten in diesem Umfeld. Gleichzeitig schien Anfang des Jahres in Europa der Höhepunkt der Inflation überschritten zu sein. Die lag vor allem an schwindenden Ängsten vor einer Gasknappheit und überraschend stark gefallenen Energiepreisen. In den USA war die sukzessive Abschwächung der Inflationsraten schon einige Monate zuvor zu beobachten.

Dies ließ viele Kapitalmarktteilnehmer erwarten, dass die US-Notenbank bereits im Herbst dieses Jahres mit ersten Zinssenkungen eine sich abschwächende Wirtschaft stützen und auch die EZB ruhigere Fahrwasser ansteuern werde. Weit gefehlt! Die Kerninflation, also die Preissteigerung ohne Berücksichtigung der schwankenden Energie- und Nahrungsmittelpreise, erwies sich nämlich nicht nur als hartnäckig, sondern markierte sogar neue Höchststände. Von den Inflationszielen der Fed und der EZB ist die Kerninflation weiterhin meilenweit entfernt – selbst wenn man einen kräftig sinkenden Trend im weiteren Jahresverlauf unterstellt. So stiegen die Preise für Güter, Energie und Nahrungsmittel nur gering oder sie sanken sogar. Doch Dienstleistungen und Mieten verteuerten sich zunehmend.

Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale

Ein Ende dieses Trends ist noch nicht in Sicht. Erstens lassen sich Dienstleistungen nur selten global handeln. Ein moderierender Faktor wie bei den Güterpreisen fehlt daher. Zweitens laufen Mieten den Immobilienpreisen je nach örtlichen Marktbedingungen bis zu einem Jahr hinterher, wobei sinkende Mieten nahezu ausgeschlossen sind. So haben die seit Sommer letzten Jahres leicht sinkenden US-Häuserpreise keine Auswirkungen gezeigt. Im Gegenteil: Hohe Baukosten und Hypothekenzinsen, lange Verzögerungen bei der Fertigstellung und sehr niedrige Verkaufsbestände lassen viele Menschen mieten statt kaufen. Allein im ersten Quartal stiegen die US-Mieten in den größten Städten um rund zehn Prozent. Drittens sind Dienstleistungen meist arbeitsintensiv. Steigende Löhne sind daher der treibende Faktor für die Herstellungskosten. Bei nach wie vor starker Nachfrage und begrenztem Wettbewerb werden sie rasch und umfassend an den Endverbraucher weitergegeben. Die Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale ist also keinesfalls gebannt.

Der Freiraum der Zentralbanken, den Zinshebel bei wirtschaftlicher Schwäche in der zweiten Jahreshälfte schnell wieder umzulegen, ist eng begrenzt. So räumen die geldpolitischen Entscheider dies- und jenseits des Atlantiks der Inflationsbekämpfung unverändert oberste Priorität ein und verkünden stoisch, die Geldpolitik werde restriktiv bleiben. Baldigen Zinssenkungen hat Fed-Präsident Jerome Powell trotz der jüngsten Verwerfungen im amerikanischen Bankensektor eine klare Absage erteilt. Allein: Die Kapitalmarktteilnehmer glauben den Beteuerungen nicht und preisen in den USA zum Jahresende zwei bis drei kleine Zinssenkungen ein. In der Eurozone herrscht mehr Realitätssinn – aber auch hier erwarten die Anleger nur noch ein bis zwei kleine Zinserhöhungen, bis die EZB eine längere Zinspause einlegt.

Diese unseres Erachtens überzogene Hoffnung auf eine baldige Zinswende bedeutet vor allem für risikoreichere Anlagen wie Aktien und Hochzinsanleihen ein schwelendes Verlustrisiko. Wir erwarten Zinssenkungen in den USA und einen Verzicht auf weitere Leitzinserhöhungen in der Eurozone nur dann, wenn die US-Konjunktur abstürzt und die restliche Welt mit in eine globale Rezession zieht. Ein solcher Absturz wird aber weder von den konjunkturellen Frühindikatoren, noch den robusten westlichen Arbeitsmärkten oder dem resistenten amerikanischen Konsumenten signalisiert. Weltweit wird das verarbeitende Gewerbe durch den Zinsanstieg zwar spürbar belastet und leidet darunter, dass sich der wirtschaftliche Post-Corona-Aufschwung Chinas bisher nur im starken Binnenkonsum manifestiert. Der weit größere globale Dienstleistungssektor kann diese Schwäche aber bisher gut ausgleichen und expandiert wieder deutlich.

Dass der aggressivste Zinsstraffungszyklus in der westlichen Welt seit Jahrzehnten aber seinen Tribut fordert, ist an den Turbulenzen im Bankensektor deutlich geworden. In den vergangenen drei Monaten wurden die drei US-Regionalbanken Silicon Valley Bank, Signature Bank und First Republic Bank von der dortigen Einlagensicherungsbehörde FDIC geschlossen. Bezogen auf die kombinierte Bilanzsumme von fast 550 Mrd. US-Dollar ist 2023 schon jetzt das Jahr mit der höchsten Ausfallsumme der US-Geschichte – genauso hoch wie während der gesamten Finanzkrise 2008/2009. Auch die Beinahepleite der Schweizer Credit Suisse und die Nacht-und-Nebel-Übernahme durch die UBS schürten die Angst vor einer neuen Finanzkrise.

Eine globale Bankenkrise ist nicht zu befürchten

Trotz der Schreckensnachrichten sind wir überzeugt, dass uns keine systemische Solvenzkrise des globalen Bankensektors droht. Im Gegensatz zur Finanzkrise 2008/2009 wurden die Probleme nicht durch Kreditausfälle, sondern den massiven Abzug von Depositen ausgelöst, die in attraktiver verzinste Anlagen flossen. Westliche Banken verfügen im Mittel über hohe Liquiditätsquoten, positive Gewinnaussichten, eine deutlich bessere Eigenkapitalausstattung und ein qualitativ hochwertigeres Kreditbuch als vor 15 Jahren. Schlussendlich hat die US-Notenbank schnell mit der Bereitstellung von zusätzlicher Liquidität reagiert, um Verluste aus Anleiheverkäufen, die eigentlich verlustfrei bis zur Endfälligkeit gehalten werden sollten, zu begrenzen. Wenngleich die Höhe der Notfallprogramme momentan einen Tropfen auf den heißen Stein darstellt, dürfte eine sich wieder verstärkende Liquiditäts- und Vertrauenskrise über eine deutliche Aufstockung der Notfallprogramme augenblicklich beendet werden.

Für die US-Wirtschaft bedeutet die Entwicklung dennoch einen zusätzlichen Dämpfer: So zeigt die letzte Fed-Umfrage unter den Kreditsachbearbeitern, dass die Kreditbedingungen weiter verschärft und die Zinskosten erneut angehoben wurden. Ähnliche Ergebnisse berichtet die EZB von den europäischen Banken. Unternehmensinvestitionen und die Konsumfreude werden zweifelsohne unter der restriktiveren Kreditvergabe leiden. Allerdings wird sich die Belastung unserer Ansicht nach in Grenzen halten. Denn auch die Kreditnachfrage ist durch wegbrechende Refinanzierungserfordernisse zurückgegangen. Viele Haushalte und Firmen hatten sich in der Corona-Zeit langfristig Kapital beschafft und profitieren – bei steigenden Lohneinkommen – noch jahrelang von festen Niedrigzinsen. Einen Abgesang auf die Weltkonjunktur anzustimmen, erscheint uns verfrüht.

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