Großes Nachhaltigkeits-Interview

„Es ist ... das Nicht-Wollen seitens der Agenturen“

Redaktion -

Nachhaltige Geldanlagen sind in den letzten Jahren aus unterschiedlichen Gründen unter Druck geraten. Der Private Banker sprach mit zwei der engagiertesten Protagonisten des nachhaltigen Investierens im deutschsprachigen Raum über ihre Einschätzungen aktueller Verschiebungen und Entwicklungen im Nachhaltigkeitsdiskurs und fragte: Sind ESG-Ratingagenturen in ihrer derzeitigen Form überhaupt fit genug, um in Sachen Nachhaltigkeit Wertungsrichter zu spielen. Julius van Sambeck ist Geschäftsführer der auf nachhaltige Geldanlagen spezialisierten Ethius Invest Schweiz GmbH in Zürich. Tommy Piemonte ist Leiter Nachhaltigkeitsresearch bei der Bank für Kirche und Caritas eG in Paderborn.  

Private Banker: Stimmt der Eindruck, dass sich „nachhaltige Geldanlagen“ gegenwärtig in der Defensive befinden? Wenn ja, handelt es sich nur um eine temporäre Schwäche oder einen langfristigen Trend? War Nachhaltigkeit vielleicht nur eine Modeerscheinung?

Julius van Sambeck: Es ist schon richtig, dass wir insbesondere seit Beginn des Krieges in Osteuropa im Februar 2022 eine Gegenbewegung sehen. Die nehmen wir auch weiterhin wahr.

Was wir momentan jedoch auch beobachten, ist der Versuch, die Definition von dem, was am Finanzmarkt als Nachhaltigkeit eingestuft wird, zu verschieben. Für nachhaltige Geldanlage gibt es keine verbindliche oder einheitliche Definition. Deshalb ist eine weitere begriffliche Klärung zunächst einmal positiv. Ob das, was teilweise dabei herauskommt – Stichwort Nachhaltigkeit von Rüstung – ebenfalls positiv ist, steht auf einem anderen Blatt. 

Die vor allem performancebedingte Nachfragschwäche bei nachhaltigen Anlagen wird jedoch nur vorübergehender Natur sein. Nachhaltige Investoren haben sich davon sowieso nie beirren lassen, wie auch Philippe van der Beck von der Harvard Business School in seiner Studie „Flow-Driven ESG Returns“ bestätigt.

In der langen Frist wird sich der Nachhaltigkeitstrend durchsetzen, denn der Druck von unten – weniger von oben – mit der Nachhaltigkeits-Transformation auf allen Ebenen rasch fortzufahren, ist weiterhin sehr groß. Nachhaltige Geldanlagen sind also ganz sicher keine Modeerscheinung.

Tommy Piemonte: Ich kann das alles unterstreichen, was Herr van Sambeck eben gesagt hat, das ist die Ist-Analyse. Aber ich frage mich auch, wie könnte das weitergehen. Wir sehen politische Verschiebungen, das Anwachsen populistischer und rechter Tendenzen weltweit. Das hat letztlich auch Auswirkungen auf die nachhaltige Geldanlage. Allerdings ist nicht die Nachhaltigkeit die Modeerscheinung, sondern die politische Rückwärtsgewandtheit gegenüber Nachhaltigkeit. Menschen lassen sich vielleicht kurzfristig blenden, soziale Ungleichgewichte tragen dazu bei. Es ist aber eine Tatsache, dass wir an planetare Grenzen geraten, und das nicht nur in fernen Zeiten und Ländern, sondern bereits jetzt vor unserer Haustüre. Das lässt sich dauerhaft nicht leugnen. Zwar werden Investoren auch künftig den Nachhaltigkeitszug benutzen, um opportunistisch auf- und abzuspringen, aber in der längeren Frist wird sich Nachhaltigkeit gezwungenermaßen durchsetzen. 

Private Banker: Ein aktuelles Beispiel für die Arbeit am Nachhaltigkeitsbegriff ist die Umwertung von Rüstungsinvestments: aus Sin Stocks scheinen Virtue Stocks zu werden. Sind Schwerter die neuen Pflugscharen?

Tommy Piemonte: Bei der Nachhaltigkeitsbewertung von Rüstung geht es in der öffentlichen Diskussion meist um „ganz“ oder „gar nicht“. Man fragt also beispielsweise: Ist die Rüstungsindustrie nachhaltig oder nicht? Dieses binäre Generalschema verstellt einer konkreten Problemanalyse ein wenig die Sicht. Eine medial wenig beleuchtete, aber sehr wichtige Fragestellung lautet: Wie sieht es denn mit einer bestimmten Rüstungsexportpraxis an menschenrechtsverletzende Staaten aus? Ist sie für eine gegebene geopolitische Situation mit verantwortlich? So hat etwa Rheinmetall auch noch nach Beginn der Krim-Krise 2014 Rüstungsgüter an Russland geliefert. In der Diskussion sollte man da also genau draufschauen.

Und ich möchte hier auch gleich ein verbreitetes Argument zu Rüstungsexporten entkräften. Häufig heißt es von Seiten der Rüstungsindustrie und Kreditwirtschaft: Wenn es eine Ausfuhrgenehmigung gibt, dann haben dies die politischen Akteure so beschlossen und als Unternehmen nehme ich das so hin und mische mich hier politisch nicht ein. Aber genau diese Nichteinmischung ist politisch, denn sie folgt immer der Politik der aktuellen Regierung. Somit ist dieses vermeintliche politische Nichthandeln politisches Handeln, das zuweilen eine Nachhaltigkeitsbewertung ignoriert. Dagegen kämpfen wir mit unseren Engagements an und sagen: Ihr müsst eine eigenständige Sorgfaltsprüfung der Rüstungsexportpraxis, unabhängig von der Ausfuhrgenehmigung, vornehmen.

Julius van Sambeck ist Geschäftsführer der Ethius Invest Schweiz GmbH in Zürich

Julius van Sambeck: Die Rüstungsindustrie unterliegt einer inhärenten Wachstumslogik und die Unternehmen wissen, dass mehr Kapital zuströmt, wenn man als nachhaltig klassifiziert ist. Rüstungsunternehmen sind zudem vermeintliche Performancetreiber in den Portfolios und davon möchten auch viele als nachhaltig deklarierten Fonds profitieren. Man erkennt hier gut die kurzfristigen Interessen der Intermediäre. Diese Bestrebung zur Umetikettierung sehen wir auf europäischer Ebene und auch die deutsche Kreditwirtschaft hat ein abgeschlossenes Konzept vorgelegt, um Rüstungsunternehmen in nachhaltige Fonds aufnehmen zu können, und das wird auch so kommen.

Dagegen sagen wir von Ethius wie auch andere Vertreter der Sustainable Finance, dass Rüstung nicht nachhaltig sein kann. Rüstung kann man unter Umständen als notwendig erachten, aber keinesfalls als nachhaltig klassifizieren.

Private Banker: Kommen wir nun zum Hauptthema unseres Gesprächs, zu Problemen des ESG-Ratings. Die wollen wir an einem aktuellen Fallbeispiel erörtern: Sie sind an einem Aktionärs-Engagement gegen Abholzungen großen Stils im brasilianischen Regenwald beteiligt. Die Rodung zielt auf die Schaffung von Anbauflächen – die 17 Prozent der Größe der Schweiz einnehmen – für die exportorientierte Agrarwirtschaft. Auch wenn die Sache reichlich kompliziert zu sein scheint, sollten wir die Darstellung möglichst einfach halten. Wenn ich es richtig verstanden habe, sind in dieser Angelegenheit Swiss Re, Großgrundbesitzer in Brasilien sowie ESG-Ratingagenturen die Hauptakteure.

Julius van Sambeck: Sie haben einige der wesentlichen Akteure korrekt benannt, aber ich muss Sie an einem wichtigen Punkt korrigieren. Nicht die Swiss Re ist direkt involviert, sondern eine 100-prozentige Tochtergesellschaft der Swiss Re, die mit dem brasilianischen Staat eine Partnerschaft eingegangen ist. Diese Tochtergesellschaft versichert die an der Abholzung beteiligten Großgrundbesitzer gegen mit ihrem Geschäft verbundene Eventualitäten.

Die Hypothese, die im Raum steht, lautet nun: ohne Versicherungsschutz würde der Regenwald nicht einfach in eine Monokultur umgewandelt werden. Denn der Amazonas-Regenwald steht unter Schutz und dürfte eigentlich durch Rodungen in dieser Weise nicht angetastet werden. Man muss daher unterstellen – und das weiß auch der Versicherungskonzern – dass es höchst problematisch ist, mit Gegenparteien wie den großflächig abholzenden Großgrundbesitzern ins Geschäft zu kommen. So ist es skandalös, dass Swiss Re zwischen 2016 und 2022 mindestens 19 Policen für Großfarmen abgeschlossen hat, denen die Behörden illegale Abholzung nachgewiesen haben.

Eine Begründung für unser Engagement mit der Swiss Re ist zunächst die Intransparenz. Der Versicherungsvertrag ist nicht öffentlich. Der brasilianische Staat agiert als Steigbügelhalter für die Versicherung dieser Flächen, wobei die Risiken auch noch verbrieft werden. Das wird dann alles sehr undurchsichtig. Dieser Fall ist auch nur deshalb ans Tageslicht gekommen, weil NGOs und Investigativjournalisten vor Ort an Unterlagen herankamen, aus denen hervorging, dass die Swiss Re über ihre Tochtergesellschaft erheblich involviert ist.

Private Banker: Was fordern Sie von der Swiss Re eigentlich konkret? Was soll der Konzern tun?

Julius van Sambeck: Wir sind nach wie vor im Austausch mit der Swiss Re und üben unser Engagement in Kooperation mit anderen Aktionären von „Shareholders for Change“ aus. Bei einem eindeutigen Umweltschaden, den wir hier vor uns liegen haben, sollte eine finanzielle Kompensation erfolgen. Wir versuchen deshalb mit unserem Engagement die Swiss Re davon zu überzeugen, in Brasilien ein Aufforstungsprojekt zu finanzieren.

Tommy Piemonte ist Leiter Nachhaltigkeitsresearch bei der Bank für Kirche und Caritas eG in Paderborn

Private Banker: Herr Piemonte, Sie haben in dieser Frage mit Herrn van Sambeck eng zusammengearbeitet. Wie schätzen Sie die Rolle der ESG-Ratingagenturen im Beispielfall ein?

Tommy Piemonte: Es ist für uns als Nachhaltigkeitsakteure von größter Relevanz, dass wir Informationen in systematisierter und automatisierter Art und Weise bekommen. Bei der großen Anzahl von Unternehmen, in die man investieren kann, geht das aber nur über das Nadelöhr der Ratingagenturen.

Wir sind darauf angewiesen, dass Kontroversen und auch Nachhaltigkeitsbemühungen einzelner Unternehmen von den ESG-Ratingagenturen bestmöglich erfasst und bewertet werden. Wenn es hier Probleme gibt, kommen wir nicht an die relevanten Informationen ran und treffen zwangsläufig falsche Investitionsentscheidungen. 

Indem Swiss Re über eine Tochtergesellschaft Agrarunternehmen in Brasilien versichert, die den geschützten Regenwald roden, trägt sie indirekt mit zu dieser illegalen Abholzung bei. In so einem Fall bedarf es allerdings der eingehenden Einzelrecherche. Wir sind aber weder in Brasilien vor Ort tätig noch haben wir direkte Kontakte zu den dortigen zivilgesellschaftlichen Organisationen. Wir erwarten jedoch, dass in so einem Fall Nachhaltigkeits-Ratingagenturen umso aktiver sind und dass sich Kontroversen spätestens nach ihrer Veröffentlichung auch in den ESG-Ratings widerspiegeln.

Private Banker: Und finden Kontroversen – also durch Unternehmen oder Staaten zu verantwortende Ereignisse, die negative ESG-Auswirkungen haben können – ausreichend Eingang in die Nachhaltigkeitsbewertung?

Tommy Piemonte: Ich beschränke mich bei meiner Antwort auf die drei vordringlichsten Probleme.

Das erste Problem sind Mängel bei der Erfassung von öffentlich gewordenen Kontroversen durch Ratingagenturen. Denn Kontroversen werden oftmals einfach übersehen oder nicht erfasst.

Sofern Kontroversen erfasst werden, ergibt sich eine zweite Schwierigkeit daraus, dass sie bewertet werden müssen. Und da sehen wir bei Banken und Versicherungen, dass Kontroversen methodisch meist nicht als so schwerwiegend eingeschätzt werden, wie sie eigentlich sind. Daraus resultieren einerseits etwa Reputationsrisiken für uns, andererseits aber Rechtsrisiken für die Versicherungen und Banken selber – Stichwort Lieferkettengesetz. Und die können sich dann auch materiell-finanziell auswirken.

Ein dritter Kritikpunkt bezieht sich auf einen methodischen Fehler beim Rating. Selbst wenn Kontroversen als schwerwiegend bewertet werden, fließt diese Bewertung aufgrund der Gewichtung so gut wie nicht in das ESG-Rating ein. Nach dem Rating richten sich aber Investoren und Indexanbieter. Das hat zur Folge, dass die wirklichen Nachhaltigkeitsbemühungen massiv missinterpretiert werden. Das kann sich dann finanziell negativ niederschlagen wie auch in der Nachhaltigkeitswirkung.  

Private Banker: Welche Reformschritte wären erforderlich, um die Ratingergebnisse der auf Nachhaltigkeit spezialisierten Agenturen zu verbessern?

Tommy Piemonte: Wir verlangen eine zufriedenstellende methodische Aufarbeitung von Kontroversen sowie eine bessere Recherche zu Kontroversen. Und wir wollen eine Beweislastumkehr. Das ist der schwierigste, aber der maßgeblichste Punkt.

Kredite und Versicherungen fallen unter das Banken- oder Geschäftsgeheimnis, so dass die Informationen zu diesen Verträgen meistens nicht öffentlich verfügbar sind. Ratingagenturen müssen also etwas bewerten, worüber sei keine Informationen haben.

Um ein wenig Licht in diese Black Box zu werfen, sollten Ratingagenturen von Banken und Versicherungen den Nachweis verlangen, dass ihre Kredit- oder Versicherungsgeschäfte bestimmte Nachhaltigkeitskriterien erfüllen. Wenn sie das nicht tun, bekommen sie einen Malus, also negative Scoring-Punkte beim ESG-Rating. Die Idee ist revolutionär, aber nicht neu. Sie konnte sich aber in der Vergangenheit am Markt nicht durchsetzen, weil sie das Ratingergebnis von Banken und Versicherungen stark negativ beeinflusste, was eben von nicht allen Investoren gewünscht ist.

Julius van Sambeck: Die Ratingagenturen sind hier in einem Spannungsverhältnis, sie wollen ja auch ihre Kunden zufriedenstellen. Rückversicherer sind in jedem global diversifizierten Aktienfonds enthalten. Bei deutlich schlechterem ESG-Rating könnten sie beispielsweise den Prime-Standard von einer Rating Agentur verlieren. Das will man nicht, deshalb grenzt man schwerwiegende Kontroversen methodisch aus und fokussiert sich auf eher nebensächliche Leistungsindikatoren.

Entscheidend ist hier auch die finanzielle Materialität. Die von uns mit der Swiss Re per Engagement diskutierte Kontroverse ist zweifellos schwerwiegend. Eine der von uns befragten Ratingagenturen hat diese Kontroverse auch in ihre Datenbank übernommen, aber sie hat sie nicht als schwerwiegend beurteilt. Weshalb? Die These ist zwar steil, aber sie trifft den Kern: Je größer ein Unternehmen ist, umso geringer ist der Einfluss schwerwiegender Kontroversen auf die Bottom-Line. Man muss daher nur groß genug sein, um jeden Umweltskandal aus der Portokasse bezahlen zu können, dann hat man keine Kontroverse dieser Art zu befürchten. Das ist ein systemischer Fehler. Bei einer der größten Agenturen am Markt findet man daher im Finanz- und Versicherungsbereich keine schwerwiegenden Kontroversen.

Private Banker: Worin besteht eigentlich der wesentliche Unterschied zwischen konventionellen und ESG-Ratingagenturen. Sind beim ESG-Rating die Informationsasymmetrien größer? Benötigt man mehr investigativen Journalismus?

Julius van Sambeck: Da haben Sie einen wunden Punkt angesprochen: Das investigative Recherchieren ist genau das, was eine Ratingagentur – vielleicht auch als Zusatzleistung, das kostet ja Geld – mit abdecken müsste. Und die daraus gewonnenen Erkenntnisse sollten in jedem Fall in die Bewertung von Kontroversen mit einfließen. Fragt man aber Vertreter von Ratingagenturen, dann sagen die, das sei genau das, was die Kunden nicht wollten. Da bin ich mir aber nicht so sicher, ob das die Kunden, die Investoren, nicht möchten, oder ob es der Mittelsmann nicht einkauft, weil es ihm zu mühsam ist.

Tommy Piemonte: Natürlich wäre es im Idealfall so, dass eine Ratingagentur investigativ arbeitet. Allerdings kann ich auch verstehen, weshalb die das nicht machen: Das ist mit sehr hohen Kosten verbunden und flächendeckend nicht möglich bei der großen Zahl von Unternehmen. Eine realistische, erfüllbare Forderung ist jedoch, wenigstens die investigativen Reports, die öffentlich vorliegen, mit in das ESG-Rating einzubeziehen. Und das muss methodisch transparent bearbeitet werden. Und die Schwere der Verstöße muss das ESG-Rating entsprechend verändern. Das ist aber der Knackpunkt.

Zu Ihrer Frage zum Unterschied zu Kredit-Ratingagenturen. Bei diesen geht es um zugängliche Zahlen, es wird beispielsweise die Bilanz analysiert, die mit klaren Kriterien und professioneller Prüfung versehen ist. Bei Nachhaltigkeitsratings hat man es häufig mit weichen Faktoren zu tun, die vielfach hinter dem Vorhang verborgen sind, den die Öffentlichkeit von einem Unternehmen zu sehen bekommt. Hier geht es beispielweise auch darum, NGO-Berichte einzubinden.

Julius van Sambeck: Das mit dem Informationsproblem möchte ich dann doch ein wenig relativieren. Wir haben heutzutage hervorragende Möglichkeiten der Sortierung von Informationen: jede Google-Suche liefert bessere Ergebnisse als das, was Rating-Agenturen in ihren Datenbanken vorhalten. Es ist nicht das Informationsbeschaffungsproblem, sondern das Nicht-Wollen seitens der Agenturen – das zu sagen ist wirklich nochmals wichtig. Wenn sie allein nur mal von der rechtlichen Seite her draufschauen würden und zum Beispiel eine Informationsplattform wie LexisNexis nutzen würden, wäre das eine immense Verbesserung. Das grundsätzliche Problem hier ist, dass ESG-Ratingagenturen ein Oligopol bilden; sie haben sich darauf geeinigt, dass man im Kontroversen-Screening auf viele essentiellen Quellen verzichtet und stattdessen sich auf die Eigenoffenlegungen der Konzerne beschränkt.

Private Banker: Also könnte man beispielsweise mit ChatGPT mehr rausfinden.

Julius van Sambeck: Fakt ist: Der Kunde – das machen wir den Ratingagenturen tatsächlich zum Vorwurf – bekommt nicht zu sehen, was er sich im Zweifel wünschen würde, das heißt ein transparentes, nach Relevanz sortiertes Kontroversen-Screening. Stattdessen heißt es von den Ratingagenturen: Nein, das wünscht der Kunde nicht, viel zu viele Daten usw.

Tommy Piemonte: Naja, die Ratingagenturen machen schon eine Bewertung, auch nach Schweregrad, aber wie ich vorher schon sagte: Die Bewertung entspricht nicht dem Schweregrad und die Gewichtung ist nicht adäquat, so dass ein falsches ESG-Rating herauskommt. So werden etwa Kontroversen, die vor Gericht landen und zu einer Verurteilung führen, in der Schwere deutlich höherer bewertet als zu dem Zeitpunkt, zu dem sie erstmals öffentlich werden. Der Aktienkurs von VW reagierte auf das Bekanntwerden des Dieselskandals deutlich stärker als auf die Gerichtsurteile 10 Jahre später. Das Problem zeigt sich also auch im Hinblick auf die finanzielle Materialität: Das Bekanntwerden der Kontroverse bildet sich zwar im Aktienkurs ab, aber nicht im Rating.

Julius van Sambeck: Aber ich würde schon auch argumentieren, dass viele Gerichtsurteile fehlen, weil sie aus Sicht von einigen Ratingagenturen Noise sind, weil sie angeblich nicht das sind, was der Kunde sehen will. Ein Beispiel hierzu sind die vielen angeordneten Strafzahlungen von amerikanischen Eisenbahngesellschaften. Viele reinigen ihre Gleise nach wie vor mit Herbiziden wie Glyphosat, anstatt auf Robotik umzustellen. Und das in Regionen, wo die Artenvielfalt besonders gefährdet ist.  Die Folgewirkungen, die sich aus der Nichtberücksichtigung von Gerichtsurteilen im Ratingverfahren ergeben, werden dabei völlig unterschätzt. Pensionskassen insbesondere hier in der Schweiz sind gehalten, die Grenzen ihres Anlageuniversums ESG-konform auszurichten. Ich kenne Vertreter von Pensionskassen, die sagen, Unternehmen mit sehr schweren Kontroversen nehmen wir grundsätzlich nicht mehr in die Allokation mit auf. Ratingagenturen spielen also eine bedeutende Rolle für die Portfolioallokation. Deshalb ist die Regenwald-Kontroverse für uns als Investorennetzwerk auch so wichtig.

Private Banker: Abschließend möchte ich Sie noch um einen kurzen Ausblick auf das Nachhaltigkeits-Rating bitten. Blicken sie hier eher optimistisch oder eher pessimistisch in die Zukunft?

Tommy Piemonte: Als Shareholder for Change werden wir die Rating-Thematik weiterhin auf der Agenda haben und in Gesprächen mit Ratingagenturen auf die Beseitigung der monierten Mängel, auf Veränderungen drängen. Wir vertreten auch weiterhin unsere Meinung gut vernehmbar in der Öffentlichkeit und tragen sie auch vor die Haustüren jener Investoren, die Ratingagenturen nutzen. Sind wir damit erfolgreich? Schwer zu sagen. Denn wir sind, in Relation zum gesamten Finanzkapital, nur kleine Lichter. Dennoch haben wir als Shareholder for Change und auch als einzelne Häuser die positiven Erfahrungen gemacht, dass wir durchaus Veränderungen erreichen können. Deshalb bin ich eher optimistisch, dass es auch zukünftig in die richtige Richtung laufen wird.

Julius van Sambeck: Wir sind grundsätzlich optimistisch und langfristig motiviert. Aber wir haben auch Grund, weiterhin optimistisch zu bleiben, weil das Rating-Thema in absehbarer Zukunft die Regulatoren auf EU-Ebene beschäftigen dürfe. Ich kann mir vorstellen, dass geeignete Spielregeln und Leitplanken für Ratingagenturen am europäischen Markt von Vorteil sind. Natürlich darf man nicht politisch in den Markt hinein regulieren. Im Fokus der Regulierung sollte die Analyse von Geschäftsmodellen, die Art der Informationen und die Offenlegung stehen, um zu adäquateren Ratingergebnissen zu kommen. Das würde vielen Kunden bei der Durchsetzung von Nachhaltigkeitszielen helfen, auch wenn dazu Druck wenigstens einer ausreichend starken Minderheit von Investoren erforderlich ist.

Private Banker: Herr van Sambeck, Herr Piemonte, wir danken Ihnen für das Gespräch.

 

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