Papa Freud und infantile Anleger

Geldanlage: Die paranoid-schizoide Phase

Lutz Siebentag -

Studie von Richard Fairchild und James Kinsella, School of Management, University of Bath, UK: An Emotional Finance Framework for Examining Bubbles and Crashes.

 

Das Verhältnis von Emotionen und Finanzen ist aus verschiedenen Gründen seit vielleicht zwei Jahrzehnten ein sehr beliebtes Thema. Und doch scheint das Thema unter der verwaltungsmäßigen Obhut von Behavioral Finance mit der Zeit etwas langweilig und bräsig geworden zu sein. Hinzu kommt, dass immer mehr Finanz-Entscheidungsprozesse automatisiert sind; aber auch Automaten zeigen unter Umständen „als ob“-affektives Verhalten, etwa im Fall synchroner Anlageentscheidungen einer Vielzahl von Automaten. Dennoch kann man dem Emotionsthema immer noch Seiten abgewinnen, an denen der finanzökonomische Mainstream bislang weitgehend vorbeiströmte. Das Emotional-Finance-(EF)-Paradigma, das auf Tuckett und Taffler zurückgeht, gehört vermutlich dazu. Es unterscheidet bewusste von unbewussten Emotionen. Und damit sind wir auch schon bei Papa Freud, auf dessen Metapsychologie der EF-Ansatz nach Eigenauskunft aufbaut. Wesentlich sind hier dann kindliche Konditionierungen und Reaktionsmuster, die im Laufe der Erwachsenwerdung unbewusst wurden, die aber in Gestalt von situationsbedingten Regressionen auch bei erwachsenen Anlegern als (Re-) Aktionsmuster wiederkehren. Die Anleger – oder sollten wir hier besser „wir“ sagen – werden also unter bestimmten Umständen entsetzlich infantil. So weit, so bekannt.

Fairchild und Kinsella, die den EF-Ansatz weiterzuentwickeln beanspruchen, sehen dabei in etwa die folgenden Vorgänge am Werk: Werde man mit größtenteils unverstandenen, aber die Phantasie erhitzenden Anlagechancen konfrontiert – wie etwa in den 90er Jahren mit High-Tech-Aktien oder in den letzten Jahren mit Kryptowährungen –, dann werde ein emotionales Ablaufprogramm in Gang gesetzt. Zunächst würden, so die These, die Anleger in eine paranoid-schizoide Phase eintreten, in der sie von einer unfehlbaren Investition mit großartigen Gewinnen ausgingen. Das sei Folge einer psychischen Spaltung: das Leid (-objekt) (das Verlustrisiko) werde von der Lust (Imagination phantastischer Gewinne) abgespalten und tief ins Unbewusste verdrängt. Anleger verliebten sich in ihre Anlageobjekte und bewerteten sie infolge dieser Idealisierung weit über dem finanziell Erwartbaren. In dieser Phase seien die Lobpreisungen der „Experten“, die diesen Liebesakt mit dem allseits begehrten Anlagewunder vermittelten, sakrosankt. Investoren seien bereit, „Silly Money“ zu zahlen – wer in Deutschland denkt bei diesem Begriff nicht sofort an „Stupid German Money“? Irgendwann werde jedoch ein Kipppunkt erreicht, an dem erste Zweifel aufkämen, die dann nagend würden, während zugleich ein (finanzieller und affektiver) Wertverfall der Liebesobjekte einsetze. Damit trete man in die depressive Phase ein: Die Finanzblase „platze“: Panik komme auf, die Preise stürzten ab. Damit flute die Realität in Gestalt schmerzhafter finanzieller Verluste das Bewusstsein, die Liebe schlage in Hass gegenüber dem Investitionsobjekt um. Zugleich würden die Experten beschimpft und müssten als Sündenböcke herhalten.

Ist das von EF thematisierte Unbewusste als Behälter vorzustellen, in dem all jene Risiko-Informationen enthalten sind, die spätestens nach einer Finanzkrise ans Licht des Bewusstseins kommen? Orientiert man sich an Freud, dann ist nur die biographische Basis des Regressions-Mechanismus unbewusst (d.h. strukturbildende Konstellationen und Erfahrungen in der Kindheit). Regression würde also für die meisten Anleger nur bedeuten, dass sie von einer Risikoaufklärung oder Warnungen nichts hören möchten und stattdessen phantastischen Erzählungen Glauben schenken, denen ihr gesunder Menschenverstand im Normalfall zumindest misstrauen würde. Und dieser Warnimpuls wird verdrängt. Nicht, dass sie die Risiken genau kennen und sie dann verdrängen müssten.

Die EF-Theorie versucht vor allem Boom-Bust-Phänomene zu erklären. Ein Problem aber sei, so Fairchild und Kinsella mit Bezug auf eine Kritik von Dow, dass die EF-Theorie bisher nur eine retrospektive Analyse erlaube, nicht eine prospektive, also keine Prognose. Dem möchten Fairchild und Kinsella abhelfen. Zu diesem Zweck formulieren sie ein einfaches formales „Emotional Finance Model“, bei dem sie zwischen dem Bewussten und dem Un-Bewussten noch ein Unter-Bewusstes einfügen. Im Wesentlichen handelt es sich um einen Liebe-Haß-Formalismus mit verschiedenen Parametern, die auch das psychologische Subsystemmodell abbilden. Der Verlauf der Aktienkurse wird dann vom Emotionsprofil über der Zeit erklärt.

Wie bei den meisten dieser psychologisch fundierten Ansätze ist das Basismodell interaktionsfrei, das bedeutet, dass am Startpunkt in der Regel nicht soziale Prozesse zwischen Personen stehen (Was für Freud übrigens nicht zutrifft, weil er die Differenzierung in psychische Subsysteme aus dyadischen und triadischen sozialen Beziehungen hervorgehen lässt). Diesen Psycho-Bias hat das EF-Modell mit der Mainstream-Behavioral-Finance-Forschung gemeinsam, die sich um alle möglichen kognitiven Verzerrungen (Biases) kümmert, nur nicht genügend um ihre eigenen (psychologischer Reduktionismus; weitgehend negative Deutung von simplen Heuristiken, ohne deren Leistungen zu würdigen). Zwar kennen Ansätze aus diesem Umfeld auch soziales Herdenverhalten, emotional vermittelte soziale Diffusionsvorgänge und – z.B. Fairchild und Kollegen in einer anderen Arbeit – Netzwerke. Aber diese ersten Schritte in die richtige Richtung ändern wenig an der Verankerung in einem psychologischen Ausgangsmodell. Ein Finanzsystem ist jedoch primär ein soziales System, das aus interagierenden Einheiten besteht, und das können Personen oder etwa auch Organisationen sein. Die sozialen Prozesse sind gewiss nicht unabhängig von psychischen Prozessen. Aber Kommunikationsstrukturen, Organisationen und Institutionen sind sehr viel wichtiger. Das gilt auch im Hinblick auf Finanzrisiken. Zwar bestehen vielleicht informatorische Asymmetrien zwischen „meinem“ Bewussten und Unbewussten. Aber die Asymmetrien zwischen „meinem“ Nichtwissen und dem Wissen von Millionen, ja Milliarden von anderen Personen sind millionenmal, ja milliardenmal größer. Darauf beruht die Möglichkeit informatorischer Arbeitsteilung. Die hierfür erforderliche Departementalisierung von Wissen benötigt an den vielen Schnittstellen Zeichensysteme für Autorität/Kompetenz. Die Zeichen ermöglichen eine schnelle Akzeptanz und Übernahme der arbeitsteilig gewonnen Ergebnisse. Hier kommen dann hierarchische Organisationen ins Spiel – Rating Agenturen, Finanzunternehmen, Regulierungsbehörden, Wirtschaftsforschungsinstitute, auch Finanzfakultäten an Universitäten. Diese Organisationen steuern intern erwünschtes Verhalten – so auch Wissen und Kommunikation über Risiken – mittels Sanktionen und Gratifikationen unterschiedlicher Art. In ähnlicher, wenn auch mehr diffuser Weise wirken Normen und Reputationserwartungen. Die Wichtigkeit dieser sozialen Mechanismen etwa bei der arbeitsteiligen Produktion, Weiterverarbeitung, Einschätzung, und Kommunikation von finanziellen Risiken förderte die Aufarbeitung der großen Finanzkrise zutage. Im Rückblick wurde erschöpfend beschrieben, wie Risiken im Rahmen von Subprime-Darlehen erzeugt, durch Restrukturierungen und in Gestalt unterschiedlicher Produkte von Finanzdienstleistern in den Weltfinanzmarkt verschoben, verstreut und auch für professionelle Beobachter praktisch weitgehend unsichtbar gemacht wurden. Viele Erklärungen rückten arbeitsteilige Organisationen, organisatorische Anreizsysteme, Institutionen, Regeln, Normen, selektive Kommunikation und sozial erzeugtes Nichtwissen in den Fokus. Man könnte auch hier von einer Art von „Verdrängung“ von Risiken in den großen, weiten Weltfinanzraum hinaus sprechen. Aber diese Art von „Verdrängung“ erfolgte hauptsächlich in der Sozialdimension, weniger in der psychischen Dimension. Sie hat überwiegend die Form von „Unwissen“, das im Nachhinein zum „das hätte man doch wissen müssen“ umdeklariert wird. Wo dieses „man“ bestimmte Experten betrifft, dürfte diese Forderung richtig sein. Bei ihnen könnte „Verdrängung“ ins psychische Un-Bewusste eher eine Rolle gespielt haben, jedoch auch Schweigen oder begrenzte kommunikative Wirksamkeit. Nichtexperten sind hingegen auf Prüf- oder Autoritäts-Zeichen für Expertise angewiesen. Diese Zeichen entscheiden mit, was an Wissens- und Meinungsangeboten akzeptiert, übernommen oder imitiert wird. Generell kann auch die oben beschriebene „Regression“ eine Rolle spielen. Das sind aber alles Formen der meist effizienzerhöhenden Komplexitätsreduktion. Denn in einem arbeitsteiligen, hyperkomplexen Sozialgefüge ist die Übernahme fremder, nicht begriffener geistiger Produkte anderer die Regel. Einfache Daumenregeln für Akzeptanz und Imitation der Ergebnisse anderer erhöhen massiv die gesellschaftliche Effizienz, weil sie Redundanz und Langsamkeit in der Wissensverarbeitung massiv abbauen helfen. Ohne diese Katalysatoren könnten komplexe Gesellschaften gar nicht entstehen. Deshalb führt etwa auch die Behavioral-Finance-Deutung vom „Herdenverhalten“ als Anomalie leicht auf die falsche Fährte: zwar kann Herdenverhalten auch dysfunktional sein. Aber völlig zurecht lobt Aristoteles in der Poetik die Nachahmung als höchste Kunst des Menschen. Wir vertrauen im Alltag laufend den in ihrer Tiefe unverstandenen Verlautbarungen von Autoritäten oder Experten – auch wenn wir andere Autoritäten und Experten kritisieren.

Kein Gewinn ohne Kosten. Anomalien sind die Kosten, die der Effizienzgewinn durch Imitation und schnelle Akzeptanz der Produkte anderer von Zeit zu Zeit verursacht. Auch ein intellektueller Halbgott bewegt sich in einem komplexen gesellschaftlichen Umfeld die meiste Zeit nur mit Hilfe dieser einfachen, aber schnellen Heuristiken. Oder, um auf unser Ausgangsproblem zurückzukommen: Um Risiken aus der gesellschaftlichen Wahrnehmung verschwinden zu lassen, kann psychische Verdrängung einen Beitrag leisten. Wichtiger erscheinen jedoch leistungs- und effizienzerhöhende gesellschaftliche Prozesse, die manchmal eben zu „Anomalien“ beitragen.

Was Experten im Nachgang der Finanzkrise überwiegend mit Worten statt Formeln als Krisenursachen herausarbeiteten, harrt immer noch einer geeigneten theoretischen Form. Die gängigen, psychologisch fundierten Verhaltensmodelle sind im Grunde „nur“ die etwas raffinierteren wissenschaftlichen Verwandten der populären Diagnose von der „Gier“ als Ursache von Finanzkrisen: Das ist nicht ganz falsch, aber eindeutig zu wenig, um sich von hyperkomplexen sozialen Systemen, wie sie Finanzmärkte darstellen, einen halbwegs adäquaten Begriff machen zu können.        

 

Link zur Studie: An Emotional Finance Framework for Examining Bubbles and Crashes

https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=3999323

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