Trends der Forschung

Grimms Märchen und Crash-Geschichten: Privatanleger und Profis reagieren unterschiedlich

Redaktion -
Wilhelm (links) und Jakob Grimm

 

Privatanleger lassen sich von Märchenhaftigkeit beeinflussen, Profis nicht. Dritter Teil einer Serie in drei Teilen: Märkte, Märchen & Maschinen – Teil 3(3): Narrative und Anleger (Die Teile 1 und 2 unter "Studien")

Die meisten Privatanleger beziehen ihre Informationen überwiegend aus öffentlich zugänglichen Finanzmedien, via Internet, Fernsehen oder die an Bedeutung verlierenden klassischen Printmedien. Im Unterschied zu Finanzwissenschaftlern verpacken Finanzjournalisten ihre Finanzinformationen gerne in Geschichten. Geschichten machen anschaulich, rufen Emotionen hervor und bewegen die Phantasie. Börsenabstürze nehmen dabei eine Sonderrolle ein, denn sie schreiben ihr eigenes Drama von Aufstieg und Fall. Eine dazu passende Erzählform drängt sich geradezu auf. Manche gieren nach ihr. Denn auch wenn für die Mehrheit der Marktbeobachter eine tiefe Krise außer Sicht ist, ist das Spiel mit dem Absturz der Märkte ein einträgliches Geschäft: Crash-Propheten besiedeln eine krisensichere Nische in der Wirtschaftspublizistik. Aber die Spezialisten für den Untergang sind für die Mehrheit der Finanzpresse nicht repräsentativ. Wie sieht es im Mainstream mit der Neigung zu Crash-Geschichten aus?

Die Finanzwissenschaftler William N. Goetzmann, Dasol Kim und Robert J. Shiller haben sich jüngst dieser Frage in einer Studie über Crash-Narrative zugewandt. Als Literaturbasis ihrer Analyse verwendeten sie einen einflussreichen Ausschnitt des klassischen, hochwertigen Finanzjournalismus: Artikel des Wall Street Journal (WSJ). Der untersuchte Publikations-Zeitraum erstreckt sich von Januar 1987 bis Dezember 2020. Einbezogen wurden knapp 190.000 nicht allzu kurze Artikel. Die Studienautoren quantifizieren die Crash-„Narrativität“ der WSJ-Artikel und untersuchen deren Wirkung auf private und institutionelle Investoren. Sie taxieren außerdem erstmals die Höhe der Erzählkunst der WSJ-Artikel im Sinne der Erzählforschung. Zum „Ideal“ für Narrativität erkoren sie die Märchen der Gebrüder Grimm. Die Textanalysen führten sie mit KI-Verfahren durch.

Crash Narrativität

Was ist ein Crash Narrativ? Wie ist eine Geschichte über massive Börseneinbrüche typischerweise gestaltet? Man kann die Frage inhaltlich zu beantworten versuchen. Goetzmann und Kollegen gehen geschickter vor, indem sie eine inhaltliche Definition umschiffen und die Frage äußerlich-technisch beantworten. Das geht aber nur, weil sie KI-Verfahren zur Textanalyse einsetzen. Die drei Wissenschaftler definieren ein Crash-Narrativ formal über alle Artikel, die kurz nach einem massiven Einbruch der Aktienbörsen in der Finanzpresse – hier WSJ – erschienen sind.

Bei diesem Einbruch handelt es sich um den 19. Oktober 1987, der auch als schwarzer Montag bekannt wurde, an dem die Aktienkurse extrem tief einbrachen. Goetzmann und Kollegen definieren nun das „Crash 87 Narrativ“ über jene Artikel, die im WSJ zwischen dem 20. und 23. Oktober 1987 erschienen sind. Die erforderliche Textanalyse überlassen sie einem noch relativ neuen, in der Linguistik eingesetzten KI-Verfahren (Doc2Vec). Der Algorithmus quantifiziert die semantische Ähnlichkeit zwischen Texten; die ergibt sich hier aus der Lage von Vektoren zueinander, die einen Text repräsentieren (Cosinus-Ähnlichkeit). Man kann auf diese Weise also die Ähnlichkeit von WSJ-Artikeln mit dem Crash-87-Narrativ berechnen. Je höher der „Crash Narrative Score“ (CNS) oder die Crash-Narrativität eines WSJ-Textes ist, umso ähnlicher ist er semantisch dem Crash-87-Narrativ.

Die Untersuchung zeigt dann auch, dass die Crash-Narrativität der WSJ-Artikel immer dann deutlich erhöht war, wenn die Märkte stark einbrachen: Beim Kollaps des Hedgefonds Long-Term Capital Management, beim Einbruch im Gefolge des Terroranschlags vom 11. September 2001, in der jüngsten Weltfinanzkrise, während der Europäische Schuldenkrise, beim Covid-19-Absturz.

Crashgeschichten und die Aufmerksamkeit für Crash

Die Tatsache, dass Artikel mit starkem Crash-Bezug in der Finanzpresse erscheinen, heißt noch nicht, dass sie viel gelesen werden oder die Leser erkennbar bewegen. Es sind zunächst nur journalistische Angebote, die auch wirkungsschwach verpuffen können. Deshalb verwendet die Studie ein Maß für die „Nachfrage“ nach Crash-Informationen in der Öffentlichkeit. Dazu dient die Häufigkeit von Eingaben aus dem Begriffsfeld „Aktienmarkt-Crash“ in Internet-Suchmaschinen. Je mehr Suchanfragen, umso höher die Aufmerksamkeit für das Aktienmarkt-Crash-Thema in der Öffentlichkeit.

Die statistische Analyse zeigte, dass erhöhte Crash-87-Narrativität am Tag X einen Tag danach eine erhöhte einschlägige Suchaktivität erklärt. Wenn also die Artikel, die im Wall Street Journal (und vermutlich auch in anderen Finanzmedien) erscheinen, dem Crash-87-Narrativ ähnlicher werden, intensiviert sich auch die Internet-Suche nach Crash-Informationen. Allerdings ist der Zusammenhang bei näherer Betrachtung etwas komplizierter. Denn ein bereits höheres Suchinteresse für Crash-Informationen führt – wenn sich zugleich die Crash-Narrativität in der Finanzpresse erhöht – zu einer größeren Steigerung der Suchintensität in der Folgezeit. Offenbar ist hier ein vom Aufmerksamkeitsniveau abhängiger Selbstverstärkungseffekt von Bedeutung.  

Die Studie berichtet zudem über mögliche Wirkungen der Crash-Narrative auf die Märkte selber. Eine erhöhte Crash-Narrativität am Tag X hatte einen Anstieg des Volatilitätsindex VIX am Tag X+1 zur Folge; dieser Effekt verschwindet jedoch einen Tag später. Die Autoren deuten das so, dass Crash-Narrative die Volatilität gerade in volatilen Zeiten (bei hoher Aktien-Crash-Aufmerksamkeit) verstärken können. Effekte der Crash-Narrativität auf Aktien-Returns konnten die Studienautoren jedoch nicht feststellen.

Narrative: Privatanleger reagieren, Institutionelle immun

Sucheingaben aus dem Themenfeld „Aktienmarkt-Crash“ zur Messung des aktiven Informations-Interesses in der Öffentlichkeit erlauben nicht, zwischen Investoren und Nichtinvestoren oder zwischen privaten und institutionellen Anlegern zu unterscheiden. Deshalb haben die drei Finanzprofessoren über 300 Investoren direkt befragt: Ein Teil waren Privatanleger, aber aus dem HNWI-Bereich. Ein Teil waren institutionelle Investoren. Erfragt wurde die Einschätzung der Wahrscheinlichkeit eines Aktienmarkteinbruchs im Ausmaß von 1929 oder 1987.

Die statistische Untersuchung ergab: War das Interesse an Crash-Informationen in der Öffentlichkeit größer und hatten die Artikel im WSJ eine höhere Crash-Narrativität, dann schätzten die befragten Privatanleger auch die Crash-Wahrscheinlichkeit höher ein. Im Gegensatz dazu fanden sich bei institutionellen Investoren keine signifikanten Zusammenhänge dieser Art. Profis scheinen also gegen Crash-Narrative in der Finanzpresse weitgehend immun zu sein. Die Gruppe um Goetzmann folgert daraus, dass Crash Narrative nicht einfach von Fundamentaldaten getrieben sind, da diese Informationen sich auch in den Einschätzungen der institutionellen Investoren niederschlagen würden.

Crash-Geschichten und Märchenmotive

Wir sprachen bisher von Crash Narrativen. Das Crash-87-Narrativ wurde jedoch, wie oben erläutert, rein formell über ein kleines Zeitfenster der Veröffentlichung definiert. In Wirklichkeit wissen Goetzmann und Kollegen also gar nicht, ob es sich hier tatsächlich um „Narrative“ im Sinne der Literaturwissenschaft handelt. Die Frage bleibt also offen: Würden auch Erzählforscher die Artikel, die unmittelbar nach dem 20. Oktober 1987 erschienen sind, als Geschichten mit hohem Erzählcharakter bewerten? Um das zu klären, verwenden die Studienautoren einen literarischen Text-Korpus als Referenz für Erzählung. Die Wahl fiel auf 210 Märchen der Gebrüder Grimm. Die Artikel des WSJ können dann mit dem Märchen-Narrativ verglichen, die Crash-87-Narrativität der WSJ-Texte mit deren Märchen-Motiv-Narrativität in Beziehung gesetzt werden. Um die zu vergleichenden Texte entsprechend kategorial zerlegen zu können, nutzen die Autoren den Thompson's Motif-Index (TMI). Der TMI katalogisiert Märchenmotive. Die Analyse und Berechnung der semantischen Ähnlichkeiten der Texte erfolgte auch hier mit KI.

Die statistische Analyse bestätigte eine starke Korrelation zwischen der Märchen-Narrativität und der Crash-87-Narrativität. Zudem geht gesteigertes Interesse an Aktienmarkt-Crash-Informationen in der Öffentlichkeit mit hoher Märchen-Narrativität der WSJ-Artikel einher. Goetzmann und Kollegen interpretieren das so, dass die Finanzpresse eher Märchen-Stilmittel einsetzt, wenn das öffentliche Interesse sehr groß ist und die Leserschaft deutlich heterogener ist als sonst.

Ersetzt man die Crash-87-Narrativität durch die Märchen-Narrativität als erklärende Größe für Investor-Verhalten, dann bestätigt sich auch hier der Befund von oben: Eine höhere Präsenz von Märchenmotiven in der Finanzpresse vergrößert die Crash-Wahrscheinlichkeit aus Sicht der Privatanleger, aber nicht aus Sicht der institutionellen Investoren.

Schluss

Finanz-Crash-Narrative, also Artikel, die WSJ-Journalisten gehäuft unmittelbar nach Börseneinbrüchen verfassen, sind den Märchen der Gebrüder Grimm ähnlicher als WSJ-Artikel, die in ruhigen Zeiten geschrieben werden und die einen geringen Grad der Crash-Narrativität aufweisen. Die Studie findet, dass bei höherer Crash-Narrativität oder Märchenhaftigkeit der Finanzartikel auch ohne Crash-Informationen in den Fundamentaldaten Privatanleger einen Einbruch der Aktienmärkte für wahrscheinlicher erachten, institutionelle Anleger hingegen nicht. Das spricht für eine rhetorische Eigenwirkung der Erzählform „Märchen“ in Finanzartikeln, von der sich nur Privatanleger verführen lassen. Dennoch stellt sich die Frage, ob bei tatsächlichen Crashs sich eine objektivierende Darstellung der Fundamentalsachverhalte nicht doch von selber den Märchenmotiven annähert. Denn so scheint es doch zu sein. Dann würden die Finanzmärkte von Zeit zu Zeit ihre eigenen Grimmschen Märchen schreiben, nicht die Journalisten.   

Link zur Studie „Crash Narratives“

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