EU-Kommission

Lenkerin der Nachhaltigkeit

Lutz Siebentag -
Ursula von der Leyen

 

Das jüngste Strategiepapier der EU-Kommission zur Forcierung eines nachhaltigen Finanzsystems konkretisiert die Vision einer umfassenden Regulierung. Schlummert darin ein unerschöpfliches Regulierungspotential?

Das „thermostatisch“ motivierte Projekt eines fundamentalen Wandels des industriegesellschaftlichen Energieregimes treibt seit einiger Zeit auch die EU-Welt der Verordnungen, delegierten Rechtsakte oder Durchführungsrechtsakte zu vermehrter Tatkraft an. Der regulatorische Eifer in Sachen Nachhaltigkeit hat das Finanzsystem längst erfasst. Denn dieses soll eine tragende Rolle bei der projektierten Weltrevolution des rezenten Energieregimes spielen. Eine der rührigsten Kräfte der nachhaltigen Finanzmarkt-Regulation ist derzeit die EU-Kommission. Sie unternahm in den letzten Jahren bereits verschiedene Schritte, um einen EU-weiten Rahmen für ein nachhaltiges Finanzwesen zu schaffen. Jetzt soll das Tempo erhöht werden und die Ambitionen wurden gleichfalls gesteigert.

Am 6. Juli 2021 veröffentlichte die EU-Kommission eine erneuerte „Strategie zur Finanzierung einer nachhaltigen Wirtschaft“, die, wie üblich, als „Mitteilung an das europäische Parlament, den Rat, den europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen“ gerichtet ist. Der EU-Strategie liegt als oberstes Ziel die Reduzierung der Treibhausgas-Nettoemission bis 2030 um mindestens 55 Prozent (relativ zu 1990) und bis 2050 auf 0 Prozent zugrunde, wie Ende 2019 im European Green Deal festgelegt. Ein nachhaltiges Finanzwesen soll dabei eine Schlüsselrolle spielen: Zum einen möchte die EU auf diese Weise selber Gelder „akquirieren“: „Der Rahmen für ein nachhaltiges Finanzwesen kann den Behörden die Beschaffung von nachhaltigem Kapital ermöglichen“, so das Strategiepapier. Gemeint mit „Behörden“ sind konkret der mittelfristige Finanzrahmen der EU (MFR) 2021-2027 und der COVID-19-Wiederaufbaufonds – der auch unter „Next Generation EU“ firmiert – die 605 Milliarden Euro für Klimaprojekte und 100 Mrd. für Projekte zur Förderung der biologischen Vielfalt vorsehen. Im Wiederaufbaufonds werden 30 Prozent über grüne Anleihen finanziert. Aber selbst Behörden sind auf die Privatwirtschaft angewiesen. Diese bedarf jedoch aus Sicht der EU-Kommission in der Nachhaltigkeitsdisziplin der Lenkung von einer erhöhten Warte aus: „Da die erforderlichen Investitionen weit über die Kapazitäten des öffentlichen Sektors hinausgehen, soll der öffentliche Sektor dafür Sorge tragen, die privaten Finanzströme in entsprechende Wirtschaftstätigkeiten zu lenken.“ Einfacher gesagt: Der öffentliche Sektor – oder wohl eher: die EU-Kommission – denkt, plant und lenkt die Nachhaltigkeit, der private Sektor stellt das Kapital und die Innovationen zur Verfügung.

Ausgangsbasis der neuen Strategieschrift ist der Aktionsplan zur Finanzierung nachhaltigen Wachstums von 2018, der auf drei Bausteinen beruht (siehe Schaubild):

Der erste Baustein ist die EU-Taxonomie mit ihrer Nachhaltigkeitsklassifikation.

Der zweite Baustein sind Offenlegungspflichten für Unternehmen, was nachhaltige Geldanlagen erleichtern soll.

Der dritte Baustein umfasst diverse Orientierungs-Instrumente für nachhaltiges Investieren, wie etwa Benchmarks, Standards oder auch Gütesiegel.

Diese Strategie-Bausteine möchte die EU-Kommission nun in eine nächste Phase überführen: Im Strategiepapier heißt es dazu: „Die Kommission ist entschlossen, die Umsetzung ihres ambitionierten Aktionsplans von 2018 abzuschließen. … Deshalb muss eine neue Phase der EU-Strategie für ein nachhaltiges Finanzwesen eingeleitet werden. Diese Strategie umfasst vier Hauptbereiche, in denen zusätzliche Maßnahmen erforderlich sind, damit das Finanzsystem den Übergang der Wirtschaft zur Nachhaltigkeit in vollem Umfang unterstützen kann.“ Die vier Hauptbereiche sind: a) Finanzierung des Übergangs zur Nachhaltigkeit; b) Inklusivität; c) Widerstandsfähigkeit und Nachhaltigkeitsbeitrag des Finanzsystems; d) Globale Ambition.

Übergang zur Nachhaltigkeit

Der Übergang der Wirtschaft zur Nachhaltigkeit im Sinne des European Green Deals erfordert Zwischenschritte und Verbesserungen, die zunächst auch weniger nachhaltige Lösungen beinhalten, etwa im Energiesektor. Die EU-Kommission beabsichtigt daher, auch jene (fossilen) Energieträger stärker in ihrer Klima-Taxonomie zu würdigen, deren „Niveau“-Nachhaltigkeit im Sinne der Klimaziele deutlich negativ ist, sofern sie zum Ziel der Treibhausgasreduzierung beitragen. Ein Stichwort lautet in diesem Zusammenhang „Erdgas“. Auch die Kernenergie wird nun Berücksichtigung finden. Die Landwirtschaft soll gleichfalls in die Erweiterung der EU-Taxonomie einbezogen werden. Darüber hinaus sollen neben den bisher dominierenden Klimazielen auch die anderen vier Umweltziele der EU – Wasser, Kreislaufwirtschaft, Vermeidung von Umweltverschmutzung und biologische Vielfalt – in die EU-Taxonomie integriert werden. Des weiteren sollen Gütesiegel für Finanzinstrumente stärker standardisiert und differenziert werden – etwa im Hinblick auf Übergangs- und Nachhaltigkeitsanleihen, ESG-Referenzwerte, Mindestkriterien für nachhaltige Finanzprodukte und damit verbundene Offenlegungspflichten. Die in diesem Kontext vorgeschlagenen Maßnahmen sollen möglichst schnell in Angriff genommen und in delegierte Rechtsakte überführt werden.

Inklusivität

Mit Inklusivität ist insbesondere eine stärkere Einbeziehung aller Akteure am Finanzmarkt in den Prozess der Nachhaltigkeit gemeint. Die Kommission unterscheidet hier fünf Problembereiche. Erstens soll der Zugang für Kleinanleger sowie für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) zu einer nachhaltigen Finanzierung verbessert werden. Das können bei privaten Haushalten etwa Kredite zur Erhöhung der Energieeffizienz von Eigenheimen sein. Zu diesem Zweck sollen die Finanzberatung gestärkt und die einschlägigen Kompetenzen von Bürgern und KMU erhöht werden.

Der zweite Teilaspekt der Inklusivitäts-Strategie ist die bessere Nutzung „digitaler Technologien für ein nachhaltiges Finanzwesen“. Das schließt die Prüfung der Nachhaltigkeit dieser Technologien mit ein. Die nachhaltige Nutzung von Daten zur Finanzierung von Nachhaltigkeit soll mit der Europäischen Datenstrategie verbunden werden.

Der dritte Aspekt ist die Verbesserung der Absicherung gegen Klima- und Umweltrisiken. So werde man etwa Versicherungslücken im Fall von Naturkatastrophen anhand des EIOPA-Dashboards (Datenvisualisierung durch die „Europäische Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung“/EIOPA) leichter erkennbar machen.

Der vierte Maßnahmenbereich der „Inklusion“ ist die „soziale Frage“ – das S und G von ESG. So soll etwa eine Sozialtaxonomie vorbereitet werden.

Der fünfte Unterpunkt bezieht sich auf „Umweltgerechte Haushaltsplanung und Mechanismen der Risikoteilung“. Das bezieht sich auf den Haushalt der EU und der Mitgliedsländer. Angekündigte Maßnahmen sind hier u.a. diverse Verfahren zur Nachverfolgung der Ausgaben für Klimaschutz und biologische Vielfalt.

Widerstandsfähigkeit

Die erhöhte Widerstandsfähigkeit des Finanzsektors unter der Perspektive der Nachhaltigkeit gehört zu den Kernanliegen des Strategiepapiers und nimmt den größten Raum ein. Hier unterscheidet die EU zwei wesentliche Aspekte, die dann auch unter dem Begriff „doppelte Wesentlichkeit“ (oder „doppelte Materialität“) firmieren: Erstens die finanziellen Nachhaltigkeitsrisiken durch Klimawandel und Umweltschäden für einzelne Finanzmarktakteure. Zweitens die Nachhaltigkeitswirkungen von einzelnen Investitionen auf Umwelt und Gesellschaft, der „Impact“ also. Beide Aspekte sollen nach dem Willen der EU-Kommission stärker in finanzielle Entscheidungsprozesse eingehen. Demzufolge unterscheidet sie im Strategiepapier zwei Aktionsfelder, für die sie eine Vielzahl von Maßnahmen nennt (in 12 Punkten zusammengefasst).

Das erste Aktionsfeld ist die „Stärkung der wirtschaftlichen und finanziellen Widerstandsfähigkeit gegen Nachhaltigkeitsrisiken“. Zu den zukünftig zu ergreifenden Maßnahmen gehört die „Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsrisiken in Finanzberichterstattung und in Rechnungslegungsstandards“; die „Erhöhung der Transparenz von Ratings und Rating-Ausblicken“, die Kreditrisiken bewerten; und die Förderung und Nutzung der Kapazitäten von Banken und Versicherungen, Nachhaltigkeitsrisiken zu erkennen. Die in diesen Kontexten diskutierten Maßnahmen zielen auf die Mikroebene der einzelnen Unternehmen und Finanzmarktteilnehmer. Aber auch auf der Makroebene des Finanzsystems sieht die Kommission weiteren Regulationsbedarf; so sollen etwa systemische „Nachhaltigkeitsrisiken identifiziert, gemessen und verwaltet“ werden. Das Aktionsfeld „Stärkung der Widerstandsfähigkeit“ erfordert die Kooperation mit einer Vielzahl von Institutionen und Gremien. Die EU-Kommission nennt im Rahmen der verschiedenen vorgeschlagenen Maßnahmen unter anderem EFRAG (European Financial Reporting Advisory Group AISBL), ESMA (Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde), IASB (International Accounting Standards Board), die Notenbank (EZB), ESRB (Europäischer Ausschuss für Systemrisiken), oder die Europäische Umweltagentur.

Das zweite Aktionsfeld ist die „Steigerung des Beitrags des Finanzsektors zu den Übergangsbemühungen“, also die Erhöhung der positiven Nachhaltigkeitswirkung von Investitionen. In diesem Kontext beabsichtigt die Kommission weitere Offenlegungs- und Überwachungspflichten, etwa im Hinblick auf die Realisierung von Nachhaltigkeitszielen, sowie eine Stärkung des Impact Investings. Weitere Maßnahmen beziehen sich auf die Verbesserung von ESG-Ratings und ESG-Marktforschung. Auch soll der bisherige „Kampf“ gegen Greenwashing verstärkt werden. Schließlich soll der „geordnete Übergang des Finanzsystems der EU“ auch überwacht werden. Die Kommission kündigt in diesem Kontext u.a. einen „robusten Überwachungsrahmen zur Messung der Kapitalflüsse und Unterstützung der Mitgliedstaaten bei der Bewertung der Investitionslücke und der Messung der Fortschritte ihrer Finanzsektoren (bis 2023)“ an. Auch möchte die EU-Kommission sicherstellen, „dass die Perspektive der doppelten Wesentlichkeit im gesamten EU-Finanzsystem konsequent angewandt wird (bis 2022)“.

Globale Ambition

Diese Strategie zielt auf einen größeren internationalen Konsens im Hinblick auf eine „ambitionierte Agenda für ein weltweites nachhaltiges Finanzwesen“. Da laut Strategiepapier die EU in dieser Sache globaler Vorreiter ist, ist mit „globalen Ambitionen“ gemeint, dass die leitenden Grundprinzipien der EU-Strategie für ein nachhaltiges Finanzsystem – wie doppelte Wesentlichkeit, Offenlegungs- und Taxonomie-Rahmen – möglichst auch weltweit zu verbindlichen Standards werden. Polemiker könnten sagen: die Welt soll an der doppelten Wesentlichkeit der EU genesen.

Schluss

Das Strategiepapier vom Juli 2021 macht einmal mehr deutlich, dass die EU-Kommission bei der beabsichtigten Realisierung von ambitionierten Nachhaltigkeits- und Klimazielen keineswegs der Selbstregulation der Finanzmärkte vertraut. Die EU-Kommission beansprucht offenkundig nicht nur eine Art von Richtlinienkompetenz bei der Regulierung nachhaltiger Finanzmärkte; sie entwickelt vielmehr immer weitere konkrete Ziel- und Lenkungsvorstellungen für den gesamten Finanzsektor innerhalb der EU. Das Strategiepapier geizt nicht mit Maßnahmen: Es enthält insgesamt 6 Maßnahmenpakete, die wiederum in 25 Unterpunkte zur Regulierung von Nachhaltigkeit differenziert sind. Das schließt konkrete Normsetzungen bzw. Rechtsakten mit ein, die in nächster Zeit vorgesehen sind. Das im Papier gesetzte Zeitlimit für die benannten konkreten Schritte ist kurz, es liegt überwiegend bei 1 oder 2 Jahren.

Das Strategiepapier führt zudem die außerordentliche Komplexität einer Nachhaltigkeitsregulierung auch „nur“ der Finanzmärkte vor Augen, an der eine Vielzahl von Akteuren mit unterschiedlichen Interessen beteiligt werden müssen. Es wird auch deutlich, dass die beabsichtigte Nachhaltigkeitstransformation des Finanzsystems ein unerschöpfliches Regulierungspotential darstellt. Darauf sollten sich Praktiker an den Finanzmärkten einstellen.

Das motiviert ganz zum Schluß noch eine ganz grundsätzliche Reflexion: Der Anthropologe Joseph Tainter – ein Nachhaltigkeitsexperte und Spezialist für den Zusammenbruch komplexer (agrarischer) Gesellschaften – entwickelte an historischen Beispielen die These, dass mit der Zunahme etwa der bürokratisch-regulatorischen Komplexität deren Problemlösungs-Produktivität abnimmt, während die Kosten progressiv steigen. Das führe irgendwann zu einem Komplexitätskollaps. So sei Rom untergegangen. Demnach wäre denkbar, dass eine exzessive Regulierung von Nachhaltigkeit kollabiert, bevor die Nachhaltigkeitsziele erreicht worden sind. Letztlich würden in so einem Fall dann allerdings die Nachhaltigkeitsziele doch erreicht – eben durch den gesellschaftlichen Kollaps. Aber wir hoffen und glauben, dass Tainters Thesen in diesem Fall nicht zutreffen.  

 

Links zum Strategiepapier (doc.1) und Anhang (doc.2)

https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52021DC0390&from=DE

 

 

 

 

 

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