Trends der Forschung

Märkte, Märchen & Maschinen – Teil 1(3): Storytelling in der Wirtschaft

Redaktion -

Was Finanznachrichten, Epidemien, Bubbles, Inflation und Lernende Maschinen mit den Gebrüdern Grimm verbindet. Nicht nur Nobelpreisträger Robert J. Shiller scheint es zu wissen. Erster Teil einer Einführung in drei Teilen.

Hegel - ein Erzähler ? Prüfen Sie selbst >>

Der Mensch ist ein erzählendes Wesen. Aber nicht alles ist eine Erzählung. Eine staubtrockene Begriffshuberei etwa sicher nicht. Seit den 1970er Jahren ist jedoch auch das nicht mehr ganz so sicher. Denn selbst hochabstrakte Marterschriften für das Hirn galten nun als „Erzählungen“: Französische Denker behaupteten als Erste, Kant und Hegel hätten auch nur mit ernster Denkermiene Geschichten vorgetragen, die man genauso gut oder noch besser viel lockerer und völlig anders erzählen könnte. Sie sprachen von méta récits. Das übersetzte man ins Deutsche mit Meistererzählungen, ins Englische mit grand narratives oder auch metanarratives. Schnell fasste der neueste subversive Chiqué aus Paris auch in den Elfenbeinzentren der USA Fuß. Damit begann der unaufhaltsame Siegeszug des Wortes „Narrativ“. Bald gab es kaum noch eine Fakultät, die nicht von der „Narrativitis“ erfasst worden wäre. Die „Humanities“ wuchsen im Zuge der permanenten Bildungsexpansion sowieso. Über die universitären Sozial-, Literatur- und Medienstudiengänge ging das Wort schließlich auch in der Alltagssprache viral. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis die Wirtschaftswissenschaften die Bedeutung der „Narrative“ für Wirtschaft und Finanzmärkte entdecken würden. Sehr prominent geschah dies im Jahr 2017, als der Träger des Wirtschaftsnobelpreises Robert Shiller eine programmatische Bestandsaufnahme über „narrative Economics“ veröffentlichte (Link siehe unten), die er erzählerisch zu einem 2020 veröffentlichten Buch (dt.: Narrative Wirtschaft) ausbaute. In jüngster Zeit hat sich in diesem ökonomischen Forschungsfeld einiges getan.

„Narrative Economics“

Dass eine gute Story stärker bewegt und besser im Gedächtnis haften bleibt als eine monoton und trocken mäandernde Analyse ist auch auf Finanzmärkten kein Geheimnis. Aber erst die postmoderne Auslegung des Seins als Text und Story verlieh dem Begriff „Narrativ“ Allzuständigkeit, höhere Weihen und mehr Attraktivität. Davon scheint auch die empirische Forschung zum „Erzähl“-Thema in unterschiedlichen Disziplinen profitiert zu haben, jedenfalls deutet der Überblick, den Shiller in seinem Artikel gibt, auf einen hohen (Wo-)Manpower-Einsatz hin.

Schiller versteht den Begriff Narrativ jedoch gerade nicht im postmodernen Sinn. Er behält für die Wirtschaft die traditionelle Unterscheidung von Expertenmodellen und Laienvorstellungen aufrecht. „Narrative“ definiert er als populäre – in der Bevölkerung weit verbreitete – Interpretationen und Erklärungen wirtschaftlicher Sachverhalte, die einen mehr oder weniger großen Wahrheitskern enthalten können. Die wichtigsten Kriterien für Narrative sind demzufolge: weite Verbreitung; Einfachheit; Spiel auf der Klaviatur menschlicher Interessen und Emotionen. Narrative konkurrieren untereinander, sie können widersprüchlich sein, sie sind die Elemente des Zeitgeistes und sie sind Träger raschen kulturellen Wandel.

Das Viralgehen aus Ökonomensicht

Shiller wäre nicht Nobelpreisträger der Wirtschaftswissenschaft geworden, wenn er nicht die starke Neigung verspüren würde, auch für ökonomische Narrative schnurstracks nach mathematischen Modellen des raschen Wandels und des Ausbreitungserfolgs zu suchen. Fündig wurde er in seinem 2017er-Artikel in der Epidemiologie. Erzählungen, Geschichten, auch solche mit ökonomischem Inhalt, verbreiten sich, so die These, wie Viren. Sobald man diese bereits alltagssprachliche („viral gehen“) und damit fast schon selbstverständliche Modellannahme akzeptiert, werden Erzählungen im Hinblick auf ihre Diffusionsdynamik und Verbreitungsparameter berechenbar. Und es wird möglich, Erzählungen in einen quantifizierenden ökonomischen Modell-Rahmen einzubauen. Als geeignetes epidemiologisches Basis-Modell stellt Shiller das Kermack-McKendrick-SIR-Modell vor, das zur Beschreibung sozialer Prozesse jenseits der Virenausbreitung bereits etabliert ist. Shiller diskutiert in seinem Papier verschiedene Modellvarianten, worauf wir aber an dieser Stelle nicht näher eingehen (siehe Studie, Link unten).

Shiller erläutert zudem, was er sich unter typischen ökonomischen Narrativen mit hoher öffentlicher Wirkung konkret vorstellt. Er geht auf verschiedene Beispiele ausführlicher ein. Eines ist die legendäre Laffer Curve, die im Wahlkampf und zu Beginn der Reagan-Administration eine wichtige Rolle zur Rechtfertigung von Steuersenkungen in den USA spielte. Shiller liefert eine kurze (Hi-)Story darüber, wie die Laffer-Curve-Story entstand, die sich zunächst um ein Steak-Essen im Jahr 1974 rankt, bei dem neben Dick Cheney und Donald Rumsfeld auch Jude Wanniski vom Wall Street Journal am Tisch saß. Man weiß das, weil Wanniski 1978 über dieses Essen geschrieben hat. Ein Kern der Story war, dass Laffer seine Kurve im Restaurant auf eine Serviette geschrieben habe. Laffer konnte sich zwar 1978 daran nicht erinnern, aber die Geschichte mit der Steuerkurve auf der Serviette ging viral. Seither werden bei Steuerreform-Vorschlägen immer wieder Servietten oder Bierdeckel bemüht. Weitere Beispiele, die Shiller anführt, sind Stories im Kontext der Bildung von Blasen und zu Crashprozessen sowie Depressionsphasen: so etwa Geschichten über die Depression 1920/21, die Große Depression der 30er, die Große Rezession von 2007 bis 2009. Abstrakt betrachtet spielen hier jeweils positive Rückkopplungen, also Prozesse der (Selbst-)Verstärkung, eine entscheidende Rolle. Daher ist es naheliegend, gerade hier auf epidemiologische Modelle zurückzugreifen.

Shiller führt im Rahmen seines programmatischen Überblicks zu ökonomischen Narrativen selber zwar keine empirische Untersuchung durch. Er ist jedoch Mitautor einer 2022 erschienen Studie zu Crash-Narrativen, zur Investorreaktion und zum Gebrüder-Grimm-Effekt. Ergebnisse davon stellen wir in Teil 3/3 vor. In Teil 2 berichten wir über eine gleichfalls 2022 veröffentlichte Studie, die herausfand, dass Narrative die Inflation besser vorhersagen als etablierte quantitative Prognoseverfahren. Wir zeigen in den Teilen 2 und 3 zudem, welchen Part Maschinen der Lektüre (ML) spielen.

Link zur Studie von Shiller (2017): Narrative Economics

 

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