Nachhaltige Geldanlage in der Orientierungskrise?

Redaktion -

Die vergangenen zwei Jahre waren den nachhaltigen Geldanlagen etwas weniger gewogen als die Jahre davor. Ein Grund waren Schwächen der Performance. Ein anderer waren punktuelle Umwertungen des Nachhaltigkeitsbegriffs, die viele ESG-Anleger irritierten. So scheint sich das lange verschlossene Tor der Nachhaltigkeit für Waffenhersteller zu öffnen. Die Geopolitik und ihre Fortsetzung mit anderen Mittel macht es möglich und da überdenken auch die Verbände in Deutschland ihre Türpolitik. Auch politisch-ideologisch geriet Nachhaltigkeit in den vergangenen Jahren aus den unterschiedlichsten Gründen in die Defensive. Gegner des etablierten Kanons der Nachhaltigkeit oder einzelner „Themen“ machten erfolgreich mobil. Und das gelang etwa in den USA sehr gut.

Non Violence Sculpture vor dem UN-Hauptquartier: Ein Knoten in der Nachhaltigkeit
von Waffen, für den es beim ESG-Rating bald Abzüge gibt?

Rüstung und Nachhaltigkeit

Derzeit fragen sich Geldanleger vermehrt: „Ist Rüstung doch irgendwie nachhaltig, haben wir uns bisher von Ausschlusskriterien narren lassen?“ Die Antwort fällt bekanntlich unterschiedlich aus und ist anfällig für den wankelmütigen Geist der Zeit.

2021 vereinbarten Verbände der Finanzwirtschaft in einem ESG-Zielmarktkonzept, dass Unternehmen mit mehr als 10% Rüstungsumsatz aus nachhaltigen Fonds auszuschließen seien. Diese guten Vorsätze haben den russischen Angriff auf die Ukraine im Jahr 2022 und die militärische Unterstützung des gebeutelten Landes durch den Westen nicht überstanden.

In einem kürzlich veröffentlichten Interview erklärte Magdalena Kuper, Leiterin Nachhaltigkeit beim deutschen Fondsverband BVI, weshalb: „Seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine gibt es eine breite gesellschaftliche Debatte über einen Ausbau der Rüstungsindustrie zur Verteidigung unserer demokratischen Grundordnung. Mit dem Ausschluss der Rüstungsfinanzierung im ESG-Zielmarktkonzept haben wir diese Debatte bislang unterbunden und wollen sie nun auch den Fondsmanagern und den Anlegern ermöglichen.“ Zugleich müsse man, so Kuper, Vorgaben der EU umsetzen: „… Die EU-Kommission stellt insbesondere klar, dass der EU-Rahmen zur Nachhaltigkeit keine Investitionen in Rüstungsfirmen unterbinden soll. Diesen Klarstellungen müssen wir im Mindeststandard des ESG-Zielmarktkonzepts Rechnung tragen.“

In den „Klarstellungen“ von EU-Seite vom Mai 2024 heißt es unter „5.1. Erleichterung des Zugangs zu Finanzmitteln“ für das „Ökosystem“ Verteidigung: „Da es dringend notwendig ist, Investitionen in dieses Ökosystem zu fördern, kommt es entscheidend darauf an, einen ausreichenden Zugang zu Finanzmitteln sicherzustellen … Die Bereitschaft der Finanzakteure, mit der Verteidigungsindustrie zusammenzuarbeiten, dürfte durch die Besonderheiten des Verteidigungsmarkts …. bzw. durch Mutmaßungen in Bezug auf die Faktoren Umwelt, Soziales und Governance (ESG) beeinträchtigt sein. … Die Kommissionsdienststellen werden – gegebenenfalls zusammen mit der ESMA – Orientierungshilfen für die Anwendung des EU-Rahmens für ein nachhaltiges Finanzwesen im Verteidigungsbereich bereitstellen. … Das von der EDA verwaltete Netz von Regierungssachverständigen für ESG ist ein Beispiel für eine Plattform, mit der gegenseitiges Verständnis und Vertrauen weiterentwickelt werden könnte. Insbesondere sollte dieses Forum die Schnittstelle zwischen den Verteidigungsministerien der Mitgliedstaaten und dem Finanzsektor stärken.“

Der EU-Apparat leistet demnach im top-down-Verfahren ganze „Verständnisarbeit“. Aber der Finanzmarkt hat als EU-Versteher auch seine Grenzen. Systemisch bedient er primär den Wunsch nach Rendite und nicht den der EU-Kommission. Die Kurse etlicher Waffenhersteller waren nach Beginn des Ukrainekrieges im Höhenrausch, während die Erträge vieler nachhaltiger Anlagen zu wünschen übrigließen. Das weckte häufig Begehrlichkeiten, für die nachhaltige Fonds Schranken darstellten. Damit wirkten beide Motive, das Ertragsmotiv und das politische Motiv, in die gleiche Richtung.

Das ökonomische Motiv alleine hätte in dieser kurzen Zeit eine Veränderung in der Nachhaltigkeitsauffassung bei Rüstung nicht herbeiführen können. Und politische Macht wirkt effektiver, wenn sie Ethik als Katalysator nutzt. Denn ethisch fixierte Vorstellungen, die schon in einem gewissen Grad institutionell verankert sind, wie Nachhaltigkeitstaxonomien, sind wohl nur durch Betätigung der ethischen Klaviatur beschleunigt zu verändern. Das weiß auch die Politik.

Damit sind wir beim von Magdalena Kuper angesprochenen „Narrativ“, die Rüstungsindustrie sei Verteidigerin der Demokratie – eines gewöhnlich hochgeschätzten Werts. Ohne die schnelle, institutionell abgesicherte Verbreitung einer Situationsdeutung des Krieges in Osteuropa und der Sicherheitslage, die an bestimmte existentielle und ethische Vorstellungen appelliert, wäre der sich abzeichnende Wandel der Nachhaltigkeitsbewertung der Rüstungsbranche wohl nicht möglich gewesen.

Das heißt dann auch: Ein homo oeconomicus, der ethische Beschränkungen der Geldanlage aus rein ökonomischen Gründen beseitigen möchte, müsste in diesem Fall wie ein homo ethicus argumentieren. Hypokrisie wäre eine ökonomisch zwingende Forderung.

Aber dies setzt die Gleichausrichtung von neuem Nachhaltigkeits-„Narrativ“ und ökonomischen Interessen voraus. Und die ist von den Umständen abhängig. Man kann sich deshalb auch hypothetisch und ein wenig widersinnig fragen: Stünden heute den Waffenproduzenten die Türen der nachhaltigen Geldanlage ebenso weit offen, wenn nach Kriegsbeginn 2022 Rüstungsaktien in den Sturz- und Tiefflug übergegangen wären und nachhaltige Anlagen einen Höhenflug angetreten hätten?

Nachhaltigkeit und DEI

Als wichtiger Gradmesser für die Bedeutung der nachhaltigen Geldanlage in der Fondsindustrie gelten die Jahresbriefe von Blackrock-Chef Larry Fink. Vor einigen Jahren stand noch ESG im Zentrum seiner Botschaft. Im 2023er-Brief war das Wort ESG wohl nicht mehr anzutreffen. Exegeten berichteten, es seien nur noch einzelne Nachhaltigkeitsthemen angesprochen worden. Der Jahresbrief zu Beginn 2024 habe diese Tendenz fortgesetzt. Offenbar hat Fink das Wort „ESG“ gemieden, weil es in den USA zwischenzeitlich für viele ein rotes Tuch ist. Anders gesagt: Fink ging im schon länger währenden „cultural war“ in den USA in Deckung.

Unter anderem vor Leuten wie Ron DeSantis, für den ESG die Prioritäten verkehrt: “Corporate power has increasingly been utilized to impose an ideological agenda on the American people through the perversion of financial investment priorities under the euphemistic banners of environmental, social, and corporate governance and diversity, inclusion, and equity”.

DeSantis ist nicht irgendwer, sondern Governor von Florida. Die bundesstaatlichen Vermögensverwaltungen sind angehalten, nicht mehr nach ESG-Kriterien zu investieren, sie haben sich ausschließlich nach der Rendite zu richten. Aber dieser neue homo oeconomicus der Marke Florida ist, wie das Zitat zeigt, nicht rein ökonomisch motiviert, sondern vor allem politisch-ideologisch – und das bedeutet eben auch werteorientiert, nur eben anderswerteorientiert. Aber man nutzt durchaus auch Konsenswerte. Denn DeSantis begründet die rein ökonomische Ausrichtung auch mit Demokratie. In staatlichen Fonds müssten im Sinne der Demokratie auch die Werte so repräsentiert sein, wie sie sich in politischen Wahlergebnissen niedergeschlagen haben, d.h. etwa in der Wahl von DeSantis.  

In Texas wurde den bundesstaatlichen Pensionskassen verboten, Blackrock und anderen ESG-geneigten Vermögensverwaltern Mandate zu erteilen, weil sie, so eine Begründung, Investments in „fossile Brennstoffe“ boykottieren würden.

ChatGPT zufolge haben seit 2021 gegenwärtig 19 US-Bundesstaaten 42 Anti-ESG-Gesetze dieser Art verabschiedet. 2024 habe sich das Momentum jedoch verlangsamt. Dafür hat sich ein anders Momentum kräftig verstärkt: Der Kampf gegen DEI (Diversity, Equity and Inclusion).

Insbesondere seit Aufkommen der Black-Lives-Matter-Bewegung wurde in den USA die Implementierung von DEI-Programmen in Staat und Privatwirtschaft stark vorangetrieben. Dabei handelt es sich um ein breites Spektrum von Maßnahmen, die nicht nur auf Veränderungen des äußerlichen Verhaltens abzielen, sondern auch auf Korrekturen tief im Inneren, wie etwa durch Schulungen zur Bekämpfung von unbewussten Vorurteilen (Unconscious Bias Training). 

Dagegen, aber auch gegen die ältere und spezifischere affirmative Action (positive Diskriminierung), regte sich in den letzten Jahren zunehmend Widerstand. Im Sommer 2023 urteilte der Supreme Court, dass die Praxis von Eliteuniversitäten (in diesem Fall Harvard University und University of North Carolina), das Kriterium „Rasse“ bei der Aufnahmeprozedur zur gewollten Bevorzugung von Minderheiten zu verwenden, (negativ) diskriminierend für andere Gruppen und damit verfassungswidrig sei. Universitäten mussten daraufhin ihre Aufnahmeprozeduren verändern.

Zugleich nahmen Maßnahmen gegen die Ausbreitung von DEI-Programmen zu. Chat GPT zufolge beschränken oder bannen derzeit 30 Bundesstaaten DEI-Regelungen.

Auch US-Unternehmen verspürten in Sachen DEI kräftigen Gegenwind von Kundenseite. Unlängst traf es Harley Davidson, nachdem auf Initiative des neuen Chefs Jochen Zeitz DEI-Richtlinien eingeführt worden waren. Nach heftigen Gegenreaktionen von Kundenseite wurden die Richtlinien kassiert.

Koordiniert wurde die Anti-DEI-Kampagne bei der Biker-Ikone wohl wesentlich von einem noch jüngeren konservativen „Aktivisten“ namens Robby Starbuck über soziale Medien. Starbuck gelang schon zuvor, Landmaschinen-Produzent Deere & Co., Agrarutensilien-Händler Tractor Supply oder Jack Daniel's-Hersteller Brown-Forman über Kundenreaktionen zur Rücknahme von DEI-Regelungen zu zwingen.

Dass die imagebildenden Kundenstämme dieser Branchen für DEI nicht ganz so sehr brennen und eher für Gegenkampagnen Leidenschaften entwickeln, überrascht Außenstehende vielleicht weniger als dass Unternehmen dieser Branchen DEI-Regelungen einführen. Man würde bei den High-Tech-Firmen aus dem Silicon Valley eher vermuten, dass Kunden und Beschäftigte DEI-Regelungen unterstützen oder damit keine Probleme haben. Daher ist es umso bemerkenswerter, dass sich nun wohl auch Microsoft oder Zoom in Sachen DEI defensiver aufgestellt haben.

Ehemalige Marines bei Ihrem Hobby. Harley Davidson erklärte kürzlich in einem Statement, bei Einstellungen künftig nur noch nach Qualifikation zu bewerten und nicht nach DEI-Kriterien. Man werde zudem DEI-Schulungen beenden, aus dem Corporate Equality Index der Human Rights Campaign (HRC) aussteigen und nur noch Veranstaltungen der Motorradszene, von Ersthelfern, aktiven Militärangehörigen und Veteranen unterstützen.

DEI kann man als jüngere, dynamische Entwicklung mit starkem Anspruch im ESG-Schema sowohl S als auch G zurechnen. Aber auch die Gegenkräfte, über die wir berichteten, sind von ethischen Vorstellungen und Gefühlen geleitet. Kritiker von DEI oder auch affirmative Action berufen sich auf die individuelle Chancengleichheit und Leistungsgerechtigkeit, den beiden Säulen des klassischen amerikanischen Traums. Sie haben also nicht keine ethisch-moralische Basis, sondern eine andere.

Sofern man Nachhaltigkeit als Oberbegriff rein formell über ethisch-ideologische Orientierungen definiert, können beide Gruppen „Nachhaltigkeit“ für sich reklamieren. Der große Unterschied besteht in der inhaltlichen Differenz und insbesondere in der gegenseitigen Negation: Was die einen als ethisch wertvoll hochschätzen, bekämpfen die anderen als ethisch höchst verwerflich.

In der Regel wird aber Nachhaltigkeit nicht nur formell, sondern auch inhaltlich über einen bestimmten Kanon definiert, wie er sich etwa in ESG-Taxonomien niederschlägt. Das mag aus verschiedenen Gründen praktisch nützlich sein und ist vom Geltungsanspruch einer gegebenen ethischen Position her betrachtet zwingend. Bei dieser verbreiteten Definition sind ethisch-ideologische Kämpfer gegen ESG antinachhaltig.

Das analytisch-prognostische Problem bei einer engeren, im Übrigen sehr auf den Westen zentrierten Definition von Nachhaltigkeit ist allerdings, dass man die globale Varianz, die Geschichtlichkeit und die soziale Dynamik ethischer Positionen nicht richtig in den Blick bekommt und daher immer wieder Überraschungen erleben wird.

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